Das Schwein unter den Fischen
trocken, trotzdem zünde ich mir eine Zigarette an. Enki steigt ab und schleudert das Fahrrad mit voller Wucht auf die Straße, da merke ich, dass ich heule. Enki sieht mich an und nimmt mich so fest in den Arm, dass ich kaum mehr Luft bekomme. Ich lasse die Zigarette fallen und weine sein T-Shirt so voll, bis auch seine Haut nass ist.
Wir gehen den ganzen Weg zu Fuß nach Hause. Enki stellt das Fahrrad an die Hauswand unter Yves Kleins Leitsatz. Mit einer Hand schließe ich die Haustür auf, mit der anderen halte ich seinen Arm und ziehe ihn die Treppe nach oben. Ich schalte kein Licht an, öffne leise die Tür meines Zimmers und drehe dann den Schlüssel um. Wir küssen uns lange, und irgendwann, als es hell ist, schlafen wir miteinander. Als ich aufwache, habe ich Durst. Enki liegt nicht neben mir, aber ich höre ihn, er sitzt neben dem Bett und schiebt Papier hin und her: leere Blätter, Blätter mit Zeichnungen drauf, angefangene und fertige Bilder. Viele davon befanden sich unter dem Bett. Das Gute daran, nie Gäste zu haben, ist, dass man seine Zeit nicht damit verschwenden muss, Spuren zu verwischen – die meisten Menschen nennen das Ordnung. Gestern wusste ich nicht, dass tags darauf jemand in meinem Zimmer sein würde. Und schon gar nicht, während ich schlafe. Solange ich liegen bleibe, denke ich, wird Enki weiter mein Papier hin und her schieben, aufheben, ansehen, urteilen. Also richte ich mich auf:
»Was machst du da?«
Mein Mund ist trocken, meine Lippen kleben zusammen, und ich krächze bedauernswert. Enki reicht mir eine Flasche von dem scheußlichen Tafelwasser, das Reiner verkauft. Er muss im Imbiss gewesen sein, hier oben steht immer nur Bier und Fanta im Kühlschrank. Reiner hat also genug Zeit, sich blöde Sprüche auszudenken.
»Was ist das?« Enki hält mir ein Blatt Papier entgegen.
»Eine Zeichnung, Rumgemale, was weiß ich.«
»Das ist gut, ist das von dir?«
»Ja, aber eigentlich auch privat.«
Er steht auf, setzt sich auf mich und strahlt mich blöde an.
Möglichst ohne auszuatmen, sage ich:
»Geh weg, ich habe Mundgeruch.«
Er setzt mir seine Kopfhörer auf, stellt auf volle Lautstärke, drückt mir einen Kuss auf den fest verschlossenen Mund und rollt sich runter vom Bett.
»Das Lied ist schön, sehr schön!«, brülle ich und nehme den Kopfhörer erst ab, nachdem es zu Ende ist. Enki hält einige meiner Bilder hoch.
»Das war ›The High Road‹ von Broken Bells, und deine Zeichnungen sind wirklich ziemlich gut. Hast du sie schon einmal jemandem gezeigt?«
»Ach, wieso denn, ich mach das nur so zur Entspannung. Ist vielleicht mein Hobby. Jeder braucht doch ein Hobby.«
»Ja, sicher! Du bist aber kein Hobbymensch, erzähl mir nichts. Das ist doch kein Hobby, das ist großartig.«
Ich weiß nicht, was er von mir will. Er schüttelt den Kopf und sagt:
»Da solltest du was draus machen! Das ist geil kaputt. Deine Stiefmutter zum Beispiel hast du echt gut getroffen, das hier mit dem aufgerissenen Kiefer meine ich. Hast du ein Foto als Vorlage genommen?«
»Nö, ich weiß doch, wie sie aussieht.«
Er blättert wieder eine Weile herum, es hört sich an, als würde er etwas sortieren. Dann sagt er:
»Besonders gut finde ich auch die Bettina-Serie. Ich habe dreiundzwanzig Stück davon gefunden, gibt es noch mehr?«
»Ja, der Rest liegt hier irgendwo rum. Die finde ich auch einigermaßen gelungen.«
Er sieht mich an:
»Falsche Bescheidenheit steht dir nicht.«
»Würde dir Größenwahn besser gefallen?«
Er lacht.
»Du erinnerst mich manchmal an meine Halbschwester. Irgendwas in deinem Gesicht, obwohl du ein ganz anderer Typ bist. Vielleicht die Nase, ein bisschen der Zug um den Mund und die Form der Augen, aber vor allem dein spezieller abschätziger Blick. Aber abgesehen davon hat sie viel dunklere Haut und markantere Gesichtszüge.«
»So wie du?«
»Ja, in etwa.«
»Was macht sie denn?«
»Sie macht Musik! Eurodance, Sommerhits! Sie verdient eine Menge Geld in Italien damit. Die Musik ist ziemlich beschissen, aber nicht uninteressant, mit Melodie, Euphorie-Kitsch, bumm, bumm. So etwas könnte ich nie! Spiel ich dir bei Gelegenheit mal vor. Aber eigentlich funktioniert das nur in einer Freiluftgroßraumdisco im Urlaub im Süden!«
»Vielleicht gehen wir ja mal zusammen im Urlaub in eine Freiluftgroßraumdisco im Süden. Ich kenne da eine in der Nähe des Campingplatzes, wo wir immer hinfahren.«
»In so einem Laden muss man sich schnell blöde saufen, so viel
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