Das Schwein unter den Fischen
würde gerne gehen, nach Hause, ins Bett, und sofort einschlafen. Aber ich habe kein Geld mehr für ein Taxi. Ich laufe zu den Tischen, über denen die Lampions nicht mehr leuchten, doch es sind nur Fremde, die mir einen Platz anbieten. Reiner sagt, es gehört sich nicht, bei Menschen Geld zu leihen, die man nicht wiedersehen wird. Also gehe ich in Richtung Torbogen, um mich zu Fuß auf den Weg nach Hause zu machen. Da stürmt mir eine langbeinige Frau in Jesussandalen ungebremst entgegen. Wir stoßen zusammen, sie schaut mich wirr aus riesigen Pupillen an, um die Augen funkelt blauer Lidschatten. Sie riecht penetrant nach Kokosnuss, schüttelt ihre goldbraune Mähne, was den Geruch verstärkt, und ohne ein Wort der Entschuldigung aus ihrem großen, glänzenden Mund rennt sie stolpernd weiter. Ihr Mini-Ethno-Kleid verrutscht und legt die Hälfte ihrer Arschbacken frei. Sie hat noch weniger Hintern als ich. Sie rasselt mit ihren Fuß- und Armkettchen, während sie zielstrebig zu Blane Cholesterol alias Sean eilt. Sie kreist mit den Hüften, streckt ihm ihr Bein entgegen, windet sich orientalisch, tanzt, schüttelt sich und rasselt. Sie sagt ziemlich laut:
»Vaclav, Baby! Lass uns kurz aufs Klo, was ziehen und dann tanzen, ich bin so gut drauf heute!«
Ob das die Frau mit dem Vaginalpilz ist? Wie auch immer. Blane alias Sean alias Vaclav scheint nicht so begeistert darüber zu sein, sie zu sehen. Sie setzt sich mit gespreizten Beinen auf seinen Schoß, umschließt seinen schlaffen Körper mit ihren Beinen und versucht, ihn zu küssen. Man sieht nun ihren ganzen Hintern, bekleidet mit einem Tanga aus weißer Spitze. Ich muss hier weg.
Ich werfe noch einmal einen Blick auf Mira und den Schlagzeuger, die sehr damit beschäftigt sind, einander zu küssen. Dann gehe ich ins Café, beobachte, wie der Barkeeper am Tresen langsam ein Glas poliert. Ich sage, dass ich Geld für ein Taxi brauche, frage, ob ich eine Stunde arbeiten könnte. Er lacht, legt zehn Euro auf den Tresen und meint, ich könne es ihm irgendwann zurückgeben. Ich bestehe darauf, es sofort abzuarbeiten. Er sagt, wenn ich unbedingt wolle, könne ich den Geschirrspüler ausräumen,solle mir aber nicht extra eine Stunde dafür Zeit lassen. Ich bin einverstanden. Er legt Chansons auf, fragt, ob mir das gefällt. Ich zucke mit den Schultern und gehe in die Küche. Dort hält Enki Kirsten im Arm und streichelt ihr über den Kopf. Ich bleibe abrupt stehen, drehe mich um und eile hinaus. Das Geld lege ich dem Barkeeper wieder auf den Tresen.
Die langbeinige Frau, mit der ich am Torbogen zusammengeprallt bin, steht in der Tür und singt das Chanson laut mit. Dazu macht sie theatralische Gesten mit ihren langen Armen und rasselt mit ihren Armreifen. Ich mache mich schmal, schlüpfe mit höchster Körperspannung an ihr vorbei, ohne sie zu berühren, und verlasse den Hof durch den gelb beleuchteten Torbogen. Ich höre jeden meiner Schritte, wie in einer Tropfsteinhöhle, es hallt, als wäre ich allein.
Ich denke an den einzigen Urlaub, den wir nicht in Italien am See verbracht haben, sondern in Bulgarien, zu einer Zeit, als wir wenig Geld hatten. Bulgarien hatte lange, saubere Strände und war trotzdem billig. Überall wurden große, getrocknete Krebse als Spielzeug für die Touristenkinder verkauft. Der Geruch von toten Krebsen steigt mir in die Nase. Reiner kaufte mir den größten aller Krebse, obwohl ich lieber eine Muschel wollte. Ich zerbrach den Krebs im Hotelzimmer, um zu sehen, wie er von innen aussah. Reiner erzählte im Frühstücksraum jedem an unserem Tisch, seine Tochter würde irgendwann Medizin studieren, weil sie einen toten Krebs zerbrochen hat. Er redete so lange davon, bis ihn das Hündchen eines alten Ehepaars in die Hand biss, als er gerade ein Päckchen Marmelade aus ihrem Korb nahm.
Ich glaube, es war der Tag, an dem wir zu einer Tropfsteinhöhle fuhren. Ausnahmsweise machten wir einen Ausflug mit. Denn eigentlich waren Reiner und Ramona die Treffzeiten immer zu früh, meistens verschliefen wir sogar das Frühstück. In der Höhle konnten sich die beiden dann vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen und stimmten in den Touristenchor ein: »Chic, chic! Und ach, guck, Steine wie Tropfen.« Sie lachten über ihre Bemerkungen, laberten alles Schöne weg, und ich bezweifelte, dass der Mensch ein Teil der Natur sein soll. Ich fragte Reiner danach, warum es Menschen überhaupt gibt und was passiert, wenn mantot ist. Reiner seufzte, schwieg und
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