Das Schwein unter den Fischen
Kurzweil hält man sonst im Kopf nicht aus.« Er gähnt und streckt sich.
»Wieso eigentlich Halbschwester? Halb von Ingrid oder von deinem Vater?«
»Von Rinaldo, sie heißt Marcella, ist jünger als ich, sogar jünger als du. Meine Mutter weiß nichts von ihr.«
»Und wieso weißt du von ihr?«
»Weil mein Vater ein selbstgefälliger Möchtegern ist. Er ist Literaturprofessor, aber eigentlich will er Schriftsteller sein. Doch er schreibt einfach scheiße. Obwohl er großes Talent zur erbarmungslosen Hartherzigkeit hat, kann er nichts Unkitschiges erschaffen und hat auch noch nie ein Werk zu Ende gebracht. Als Kind habe ich ihn oft beobachtet, wie er Seiten zerknüllte, manchmal sogar verbrannte. Er kann nicht alleine sein, ohne dabei durchzudrehen. Und deshalb kann er nicht in Ruhe schreiben.«
»Versteh ich nicht, was hat denn das miteinander zu tun?«, frage ich.
»Na, wenn man allein ist, stößt man auf sich selbst. Und da mein Vater ein Mensch mit einem feigen kleinen Leben ist, könnte er nie etwas schreiben,das ihm gefällt. Er müsste vorher viel zu viel aufräumen. Ich werde irgendwann seinen Roman schreiben, das wird ihn fertigmachen.«
Enki verschränkt schlecht gelaunt die Arme vor der Brust.
Bisher hatte Enki mir nur von einem Theaterstück erzählt, das er angefangen hat zu schreiben. Und von der Idee für ein weiteres.
»Aber das ist privat, mein Hobby«, sagt er und grinst mich an.
»Verstehe. Dann reden wir eben weiter über deine Familie.«
»Das ist auch privat.« Er grinst immer noch.
»Komm schon. Erzähl mir noch was von deiner Halbschwester.«
»Sie lebt in Norditalien. Wir sehen uns einmal im Jahr.«
»Nach Norditalien fahren wir auch immer. An den großen See, seit vielen Jahren. Camping.«
»Hast du vorhin mit Freiluftgroßraumdisco eigentlich das
Planet Passion
gemeint?«, fragt er.
»Ja, so heißt der Laden!«
»Da war ich schon oft. Erst hieß es
Ruby Heaven
, dann
Papillion
, dann
Magic Rocket
– und nun schon seit einer ganzen Weile eben
Planet Passion
. Es hat mehrmals den Besitzer gewechselt. Marcella legt dort hin und wieder auf. Sie ist in Italien so etwas wie ein VIP, obwohl sie nicht mal achtzehn ist. Sie geht nicht mehr zur Schule und macht schon seit Jahren Musik. Kennst du die Gegend gut?«
»Geht so, meistens waren wir nur auf dem Campingplatz oder mit dem Tretboot auf dem See.«
»Oh, verstehe. Es gibt wirklich bessere Orte als den Campingplatz und die Disco. Als ich zum ersten Mal dort war und das Haus gesucht habe, in dem Marcella wohnt, habe ich mich verlaufen. Mein Vater hat es zwar genau beschrieben, aber ich habe mich trotzdem verlaufen und nachts vor einem Eremitenkloster geschlafen.«
»Und wie konnte dein Vater dir das Haus beschreiben, wenn ihr nie über Marcella gesprochen habt?«
»Er hatte es aufgeschrieben. Er führt akribisch Tagebuch. Ein gewisses Publikum würde ihn lieben, bildungsfernes Volk, auf das er herabschaut. Warum mein Vater meine Mutter geheiratet hat, habe ich bis heute nichtverstanden. Wahrscheinlich, weil sie zu allem ›Ja und Amen‹ sagte. Sie war ein ganz schöner Schwächling und scharf auf einen, der sie herumkommandierte. Es hat beiden nichts gebracht. Geliebt hat er eine egozentrische Bildhauerin, mit der er bloß eine Affäre hatte, sie trafen sich immer in München oder Paris. Sie war eine Chaotin und chronisch pleite. Manchmal hat sie Geld von ihm angenommen, aber das war’s dann auch schon mit Zuwendung. Wahrscheinlich hat sie ihn nicht geliebt. Als sie schwanger wurde, wollte er ihr eine teure Wohnung besorgen, damit sie sein Kind in Ruhe großziehen kann. Das hat sie abgelehnt.«
»Und Ingrid hat das toleriert?«
»Ich habe keine Ahnung, wie viel sie wusste. Sie glaubte, wenn sie und Rinaldo ein Kind bekommen, stelle sich das Glück von selbst ein.« Traurigkeit mischt sich in seinen nüchternen Tonfall.
»Und was war mit der anderen Frau?«, frage ich.
»Lollo hat ihn verlassen, als sie im vierten Monat war. Sie hat ein Haus bei Grillo, einem kleinen Ort unweit vom See. Sie vermietet Zimmer an Touristen, die zum Malen in die Gegend reisen. Sie restauriert auch alte Puppen und Marionetten, organisiert kleine Ausstellungen an schrägen Orten und so. Sie kann davon leben. Ich glaube, dass sie sehr glücklich ist.«
»Glaubst du denn, deine Mutter ist mit ihrem Leben glücklich?«
»Nein! Als ich klein war, hat Ingrid manchmal Stunden damit verbracht, jedes Stück Stoff aus der Wohnung auf dem Balkon
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