Das Schwert der Keltin
dort die Nacht allein im Gebet verbracht. Es waren keine ruhigen Stunden gewesen, und nicht ein einziges Mal hatte Valerius den wahren Odem des Gottes gespürt, aber er war anschließend überzeugt gewesen, dass Mithras ihn angehört hatte. Zumindest hielt der Gott die vielen und immer noch zahlreicher werdenden Toten davon ab, in Valerius’ nächtlichen Träumen herumzuspuken. Anscheinend erstreckten sich Mithras’ Kräfte aber nicht darauf, die ständig wieder auftauchenden Gesichter der Lebenden aus Valerius’ Gedanken zu verbannen: das eines dunkelhaarigen Mädchens mit einem Stein in der Hand; das seiner Mutter, die es energisch wegzieht; das endlose Meer von Frauengesichtern mit ihren von unverhohlenem Hass und stummen Vorwürfen erfüllten Blicken.
Auch vermochte die Macht des Gottes nicht das ständige, wie von einem Blitz herrührende Zucken in seinem Arm zu beschwichtigen, das Cassivellaunos’ Schwert in ihm ausgelöst hatte. Zumindest in dieser einen Beziehung hatte die Großmutter Recht gehabt: Das Schwert hatte nach ihm gerufen, hatte versucht, ein Lied in ihm zum Erklingen zu bringen, und jener kleine Teil seiner Seele, der noch nicht verdorrt war, hatte darauf reagiert und sein tiefes Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass dieses Lied zerstört worden war und niemals wieder ertönen würde. Jede Nacht, wenn er hellwach auf seiner Pritsche lag, dachte Valerius wieder an den Fluch der Großmutter und wusste doch nicht, ob er den lebendigen Tod, den sie ihm verheißen hatte, begrüßen oder dagegen ankämpfen sollte. Wie auch immer, gegen Ende des Monats, als das Gemetzel seinen Höhepunkt erreichte, war Valerius einfach zu erschöpft und übernächtigt, als dass es ihn noch groß gekümmert hätte.
Er gewöhnte es sich an, allein um die Pferdekoppeln herumzugehen, nur mit seinem Gürtelmesser bewaffnet. Diese einsamen nächtlichen Patrouillen waren sein Opfer und zugleich seine offene Herausforderung an den Gott. Hier bin ich, nur dürftig bewaffnet und verwundbar. Beschütze mich , wenn du kannst.
Valerius schritt wie mit verbundenen Augen über die Koppeln. Ferne Feuer loderten scharlachrot am Horizont. Wenn er zu ihnen hinüberblickte, hinterließen sie so etwas wie einen Abdruck in seinen Augen, so dass die Nacht um ihn herum anschließend noch dunkler erschien. Die Fackeln der Wachen spendeten nur unzuverlässig Licht, da sie dazu neigten, sich genau dann, wenn man sie am dringendsten brauchte, fortzubewegen oder auch ganz einfach zu verlöschen. In der vollkommenen Dunkelheit lernte Valerius genauestens die Schatten der Hecke und die Formen der stehenden Pferde kennen, und schon bald konnte er jedes einzelne Tier mühelos an seiner sich von dem Gras abhebenden Silhouette erkennen, ganz ohne Mondschein oder Sternenlicht, sondern nur Schwarz auf Schwarz. So kam es, dass er selbst in der stockfinsteren Nacht des alten Mondes - einen Monat nach der ersten Entwaffnungsaktion, als die Wolken auf die Erde niederdrückten und graue Nebelschleier über den verschwommenen roten Schein der Schutzfeuer herabsenkten - auf Anhieb wusste, dass der Schatten auf der dritten Koppel nicht allein der des Ersatzpferdes des thrakischen Dekurios war, sondern dass ein Mann daneben stand.
Valerius zog blitzschnell sein Messer und ging im Windschatten der Hecke in die Hocke. Das Pferd war ein schmalbrüstiger kastanienbrauner Wallach - kein Reitpferd, das er gewählt hätte, aber auf seine Art durchaus verlässlich -, und es kannte ihn. Valerius schürzte die Lippen und machte ein leises Geräusch. Das Tier drehte den Kopf in seine Richtung und kam dann langsam auf ihn zu. Der menschliche Schatten bewegte sich mit ihm und ging lautlos neben ihm her, eine Hand in seiner Mähne vergraben, während er seine Schritte dem Tempo des Wallachs anpasste.
Knapp jenseits der Messerwurfweite begann die schattenhafte Gestalt plötzlich zu sprechen. »Wenn du mich tötest, verliert die erste Reiterabteilung der Prima Thracum ihren Oberstallmeister. Willst du das?«
»Longinus Sdapeze.« Langsam richtete Valerius sich auf. Das Messer blieb jedoch in seiner Hand. »Wieso bist du hier draußen?«
»Heute Nacht bin ich lieber in der Gesellschaft von Pferden als in der von Menschen.« Der Mann machte einen Schritt zur Seite und trat aus dem Schatten des Wallachs heraus. Genau wie Valerius, so hatte auch der Thraker entschieden, unbewaffnet und ohne schützende Rüstung über die Koppeln zu wandern. In der Dunkelheit, noch
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