Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
vielleicht gegen einige Regeln verstoßen müssen. Ich würde es aber keinesfalls riskieren, Berni mit hineinzuziehen oder mit ihm deswegen aneinanderzugeraten.
Zurück im Gästehaus, versuchte ich ein wenig Schlaf nachzuholen, war aber zu unruhig, um mich wirklich zu entspannen. Also trank ich ein Bier, auch auf die Gefahr hin, dass es sich nicht mit der Droge vertragen würde, die man mir in der Libelle verabreicht hatte, aber zum Glück ging es gut.
Später trat ich auf den Balkon hinaus und sah zu, wie die Sonne unterging und sich die Nacht über das Meer
senkte. Erst dunkelblau, dann violett, danach schwarz: Der Himmel über Kap Querna führte mir alle Farbfolgen eines Blutergusses vor, während er sich verdunkelte. Jetzt gehörten die Straßen den Menschen, die das Licht scheuten und ihre Machenschaften tagsüber vor den Blicken der anständigen Leute verbargen. Und in dieser Nacht würde ich zu einem von ihnen werden.
Mein Plan war simpel: Ich würde zu dem Haus gehen, dessen Adresse Tanko mir gegeben hatte, mich hineinschleichen und herausfinden, ob der Zwerg tatsächlich Andras Reese war, wie ich vermutete. Alles andere musste ich dem Zufall überlassen.
Mein armseliger Plan stützte sich lediglich auf den Hinweis, den ich in Eponas alter Kate gefunden hatte. Ich zündete eine der Fackeln auf dem Balkon an, entfaltete das Pergament und sah es mir ein letztes Mal an. Übersetzt lautete der Text:
ICH WUSSTE, DASS DU WIEDERKEHREN
WÜRDEST.
UND DU WUSSTEST, DASS ICH DICH
FINDEN WÜRDE.
Ich konnte darin keine verborgene Botschaft entdecken, auch keine nur für Epona verständliche witzige oder ironische Anspielung. Den Verfasser stellte ich mir als einen Menschen vor, der es einer alten Feindin heimzahlte und ebenso bitter wie triumphierend darüber lachte. Der Rest meiner Gedankenkette war an den Haaren herbeigezogen, was mir nur deshalb zu schaffen machte, weil das Schicksal mehrerer Menschen von meinem Scharfsinn abhing.
Ich malte mir aus, wie die Königin Rhiannon jetzt äußerlich verwahrlost und innerlich verzweifelt in ihrem Käfig am Stadttor hockte. Sicher kamen jeden Morgen die Leute, die zur Arbeit gingen, unmittelbar an ihr vorbei. Und sie musste in dem Wissen, dass sie unschuldig war, deren Spott und zudringliche Blicke ertragen. Hatte man ihr erlaubt, mit diesen Menschen zu reden? Würde sie irgendwann eine persönliche Beziehung zu ihren Peinigern aufbauen, so wie es alle Gefangenen irgendwann taten? Oder hatte man sie zum Schweigen verurteilt, zum stillen Leiden in aller Öffentlichkeit, sodass sie zwar mitbekam, was in der Stadt vor sich ging, sich aber nicht dazu äußern durfte? Misshandelten ihre Bewacher sie? Oder verhätschelten sie die Königin heimlich? Verlangte Phil täglich Berichte, oder tat er so, als wäre die Königin Luft für ihn? Und würde ihre entsetzliche Lage sie schließlich zu einem Geständnis bewegen? Zu dem Geständnis, dass sie sehr wohl wusste, wer sie war, und folglich auch, wer sie so unerbittlich hasste? Oder hatte sie die ganze Zeit über nichts als die Wahrheit gesagt?
Völlig unerwartet überfiel mich die Erinnerung daran, wie ich die Innenseite von Eponas Oberschenkel gestreichelt und dabei das Hufeisen – die Narbe – entdeckt hatte. Mit meiner verschwitzten Hand hatte ich ihre fiebrige Haut berührt. Epona Grau war mir nah gewesen, eine Frau aus Fleisch und Blut. Aber Rhiannon hatte ich niemals berührt. Sie hatte mir zwar von ihrer Narbe erzählt, doch diese Narbe hatte ich nie mit eigenen Augen gesehen. Wie also sollte ich wissen, ob sie tatsächlich Epona war, äußerlich nur durch die blonden Haare und blauen Augen verändert?
Ich kam einfach nicht weiter, da ich nichts mit Sicherheit wusste. Ich hatte Epona nie abgenommen, dass sie wirklich eine Göttin war – diese Vorstellung war einfach nur albern. Und genauso wenig nahm ich Rhiannon ab, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Aber aus irgendwelchen Gründen war ich fest davon überzeugt, dass Epona und Rhiannon ein und dieselbe Person waren. Doch wie sollte das möglich sein?
Rhiannon musste ein übernatürliches Wesen sein, wenn mehr als zehn Jahre keine Spuren bei ihr hinterlassen hatten. Aber Epona hatte im Sterben gelegen, also konnte sie kein übernatürliches Wesen gewesen sein. Entweder eine oder alle beide hatten gelogen, denn falls beide die Wahrheit gesagt hatten, passte überhaupt nichts mehr zusammen.
Ich packte alle meine Habseligkeiten in meine Tasche und ließ sie auf
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