Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
Hatte ich soeben einen ersten flüchtigen Blick auf die geheimnisvolle Königin Rhiannon erhascht?
Am folgenden Morgen machte ich mich an die Arbeit.
Als ich die Tür zum Kinderzimmer aufmachte, gaben deren Scharniere, gut geölt wie alles in diesem Palast, kaum ein Quietschen von sich. Langsam schwang die Tür zurück und prallte leise gegen die Wand. Ich blieb lange auf der Schwelle stehen, um die Szenerie in mich aufzunehmen. Ich wusste nicht, ob dieser Raum tatsächlich das »traditionelle königliche Kinderzimmer« war; jedenfalls war Phil hier gestillt worden, genau wie Janette. Eine meiner frühesten Erinnerungen war die, wie Phil und ich unsere kleinen Dickschädel gegen die Gitterstäbe seines Bettchens krachen ließen. Jetzt lag das Zimmer, in dem es immer noch nach Rauch und getrocknetem Blut roch, dunkel und verlassen da. Nur durch das Fenster drang wie ein Zeigefinger Gottes ein Lichtstrahl, der den Schauplatz des Verbrechens erhellte.
Kessel und Kohlenpfanne hatte man entfernt, aber auf dem Fußboden waren nach wie vor mit Kreide gezeichnete Umrisse und große rote Flecken zu sehen. Vorsichtig machte ich einen Bogen darum. Dabei fiel mir ein, dass Mondpriesterinnen ihre Zaubersprüche stets im Uhrzeigersinn niederschrieben, und zwar in einer Symbolsprache, die ich nur teilweise deuten konnte. Gewöhnlich lag der Folge von Symbolen ein bestimmtes Motiv zugrunde. Falls der Zauberspruch mit der Luft, einem der vier magischen Elemente, zu tun hatte, konnte das beispielsweise die Darstellung eines Vogels oder mehrerer Vögel sein. Doch diese Symbole hier sagten mir nichts. Eines stellte zwar einen Vogel dar, doch die beiden folgenden zeigten einen Drachen und eine Meerjungfrau. Mir kam das wie irgendein beliebiger Humbug vor,
und ich vermutete, einer echten Mondpriesterin wäre es genauso gegangen.
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Wie Vogel gesagt hatte, war das Raster aus Gitterstäben so eng, dass nicht mal eine neugierige kleine Kreatur durchs offene Fenster ins Zimmer hätte gelangen können. Die Mauer darunter hatte weder Vorsprünge noch Nischen und reichte bis zum Hof hinunter. Ich zerrte an den Eisenstäben und hielt nach Rostschäden Ausschau, aber sie waren so fest im Stein verankert, als hätte man sie gerade erst angebracht. Niemand, zumindest kein menschliches Wesen, konnte auf diesem Weg ins Zimmer eingedrungen sein.
Plötzlich klopfte jemand an die Tür und machte durch ein Räuspern auf sich aufmerksam. Als ich mich umdrehte, sah ich einen hochgewachsenen, stattlichen Mann mit dickem Schnurrbart in strammer Haltung an der Tür stehen. »Thomas Vogel, Hauptmann der Palastwache«, stellte er sich sehr förmlich vor. »Melde mich zum Rapport, Sir.«
»Schön locker bleiben«, erwiderte ich. »Ich gehöre ja nicht zum Militär.«
»Ja, Sir«, erwiderte er und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, so wie es der Befehl »Rührt Euch!« gebot. Er war in etwa so locker wie die Gitterstäbe vor dem Fenster.
»Komm rein und schließ die Tür hinter dir.« Er tat es, blieb aber am Eingang stehen, während ich auf dem Fenstersims Platz nahm. »Dein Bericht war sehr gründlich. Ich hab dich auch nicht deshalb hiehergebeten, weil mir irgendwelche Unstimmigkeiten aufgefallen wären. Wollte mir nur noch einmal mit dir zusammen den Schauplatz des Verbrechens vornehmen. Sieht hier irgendetwas anders aus als an jenem Abend?«
Langsam blickte er sich im Zimmer um und wandte den Kopf dabei von links nach rechts. »Die Kohlenpfanne und der Kessel sind nicht mehr da. Jemand hat das Kinderbett neu bezogen. Auf dem Schaukelstuhl liegt ein anderes Kissen als damals. Und eines der Bildsymbole wirkt verschmiert.«
Ich musste lächeln. Absichtlich hatte ich eine Kreidezeichnung mit dem Stiefelabsatz leicht verschmiert, weil ich wissen wollte, ob er es bemerken würde. »Du bist verdammt gut«, sagte ich leise. »Wieso hast du’s dann nur bis zum Hauptmann gebracht?«
»Habe nur eine gute Beobachtungsgabe«, wehrte er ab.
Ich nickte. »Also gut, dann hilf mir jetzt auf die Sprünge. Wo genau befand sich die Königin, als du ins Zimmer kamst?«
Er trat vor und deutete auf eine Stelle am Boden. »Hier hat sie gekniet, in der Mitte des Kreises, das Gesicht der Tür zugewandt. Vor ihr stand der Kessel.«
»Und sie war nackt?«
Er wurde tatsächlich ein bisschen rot. »Ja, Sir, nackt.«
»Und wo befand sich ihre Kleidung?«
»Auf einem Haufen dort drüben. Als hätte sie die einfach ausgezogen
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