Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
stehen, die noch weiß und neu aussah. In den Stein waren der Name seines Sohnes sowie Anfang und Ende seines schändlich kurzen Lebens gemeißelt.
Nachdem wir die Fackeln in die Wandhalter gesteckt hatten, öffnete ich den mitgebrachten Jutesack und entnahm ihm Hammer und Meißel. Derweil fuhr Phil mit
dem Zeigefinger an dem frischen Zement entlang, mit dem die Grabstätte versiegelt war.
»Müssen wir das wirklich tun?«, fragte er ein letztes Mal.
»Ja, das müssen wir.«
»Tut mir leid, Pidi«, sagte er leise und trat einen Schritt zurück.
Den Zement konnte man schlecht zu zweit herausklopfen, deshalb nahm ich es Phil nicht übel, dass er mir nicht half. Ich brauchte eine Weile dazu, weil dieser Zement im Unterschied zu dem bereits bröckelnden Zement der anderen Grabstätten noch frisch und fest war. Als ich fertig war, hatte ich völlig verspannte Schultern und war durchgeschwitzt. Ich verstaute das Werkzeug wieder in dem Jutesack und holte zwei Brechstangen heraus. Wir verkeilten sie auf beiden Seiten der Steinplatte, stemmten die Platte hoch, was ein grässliches mahlendes Geräusch erzeugte, und ließen sie vorsichtig zu Boden.
Phil zog den herzzerreißend kleinen Sarg heraus, stellte ihn auf den Boden, holte tief Luft und hob schließlich den Deckel an, während ich mich nach unten beugte, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen.
Binnen Sekunden wurde mir klar, dass ich recht gehabt hatte. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich«, sagte ich, während ich die kreuz und quer verstreuten nackten Knochen, die man aus dem Kessel geborgen hatte, kritisch musterte. »Die gute Nachricht lautet, dass nicht dein Sohn hier begraben ist.«
Sofort kniete sich Phil neben mich. »Was sagst du da?«
Ich hob einen der skelettierten Arme hoch, der vom Ellbogen bis zu den Fingern unversehrt war. »Schau dir mal
die Handknochen an. Bei einem Säugling sind sie kurz und rund, weil sie noch nicht vollständig ausgebildet sind. Das hier sind die Fingerknochen eines Erwachsenen. Aber entscheidend ist das da.« Ich griff nach dem Schädel, dem – sicher nicht zufällig – der Unterkiefer fehlte. »Guck mal: Jemand musste sich sehr beeilen und hat deshalb ein wenig schlampig gearbeitet. Sieht das deiner Meinung nach wie der Zahn eines Säuglings aus?« Ich deutete auf den einzigen Zahn, einen Backenzahn. Offenbar hatte ihn derjenige übersehen, der den Gaumen umgestaltet hatte, damit er mehr wie der eines Säuglings wirkte.
»Von wem stammen diese Überreste?«, fragte Phil verblüfft.
»Sie könnten zwar auch von einem kleinwüchsigen erwachsenen Menschen stammen, aber ich wette, das ist ein Affenschädel. Wurde nur leicht verändert, damit er bei der flüchtigen Untersuchung, die man unter diesen Umständen erwarten konnte, als Schädel eines Säuglings durchgehen würde. Es wäre ja auch niemand auf die Idee gekommen, dass diese Knochen nicht die deines Sohnes sind. Schon deshalb nicht, weil er verschwunden ist.« Ich ließ den Schädel in den Sarg fallen, wo er dumpf aufschlug.
Phil hockte sich hin und lehnte sich schwerfällig gegen die Wand. »Mein Gott, ich verstehe das alles nicht …«
Ich setzte mich neben ihn. »Es war ein abgekartetes Spiel. Das habe ich bereits vermutet, als mir klar wurde, wie lange deine Frau vom Speisesaal bis zum Kinderzimmer gebraucht hat. Normalerweise kann das unmöglich eine halbe Stunde dauern. Irgendetwas ist ihr unterwegs zugestoßen.«
»Aber… was? Und warum?«
»Das kann nur sie beantworten.«
Er wandte sich mir zu. »Wenn das die gute Nachricht sein soll, was ist dann die schlechte?«
»Die schlechte ist, dass irgendjemand es um jeden Preis so aussehen lassen wollte, als hätte deine Frau euren Sohn getötet. Der oder die Täter – es können ja auch mehrere gewesen sein – haben es geschafft, unbemerkt in den Palast einzudringen und ihn ebenso unbemerkt wieder zu verlassen. Selbst wenn dein Sohn noch am Leben sein sollte, ist er spurlos verschwunden. Irgendwo da draußen hast du einen wirklich teuflischen Gegner.«
»Aber wer könnte das sein? Arentia hat seit fast fünfzig Jahren keinen Krieg mehr geführt. Nie zuvor gab es so wenige Verbrechen in unserem Land. Wir haben sogar die Todesstrafe abgeschafft. Und jeder hier – versteh das bitte nicht als persönliche Eitelkeit oder Prahlerei – scheint mit meiner Regentschaft ganz zufrieden zu sein.«
»Dann hat es der Täter vielleicht gar nicht auf dich abgesehen, sondern auf deine
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