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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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deuten konnte, nachdem wir es aus den Augen verloren hatten.
    Baldanders wandte sich mir zu. »Du hast sie gehört.«
    Ich verstand ihn nicht ganz und entgegnete: »Ich hab’ mit ihnen gesprochen, ja. Dr. Talos hat mich zu ihnen gebeten, als er mir das Burgtor geöffnet hat.«
    »Sie haben mir nichts gesagt. Sie haben mir nichts gezeigt.«
    »Ihr Schiff zu sehen«, sagte ich, »mit ihnen zu sprechen – das ist doch etwas.«
    »Sie treiben mich voran. Immer voran. Sie treiben mich wie einen Ochsen zum Schlachter.«
    Er trat an die Zinnen und blickte über den großen See, dessen regengepeitschte Wellen ihn wie eine riesige Milchlache erscheinen ließen. Die Mauerkronen waren um einige Spannen höher als mein Kopf, aber er stützte die Hände darauf wie auf ein Geländer, wobei ich den blauen Schein der Klaue in seiner geballten Faust sah. Dr. Talos zupfte an meinem Mantel und meinte, es wäre besser, bei einem solchen Unwetter hineinzugehen, aber ich wollte nicht von der Stelle weichen.
    »Es begann lange bevor du geboren wurdest. Zuerst halfen sie mir, wenngleich nur dadurch, daß sie mir Gedanken übermittelten, Fragen aufwarfen. Nun geben sie nur noch Anspielungen von sich. Nun lassen sie nur so viel durchklingen, daß ich weiß, gewisse Dinge wären machbar. Heut’ nacht gab’s nicht mal das.«
    Weil ich in ihn dringen wollte, die Eiländer nicht mehr für seine Experimente zu nehmen, aber nicht wußte, wie ich vorgehen sollte, erwähnte ich, daß ich seine Feuerkugeln gesehen hätte, die ganz sicher eine wunderbare, eine sehr große Errungenschaft seien.
    »Natrium«, erwiderte er und kehrte sich mir zu, den gewaltigen Schädel vor mir auftürmend. »Du hast keine Ahnung. Natrium ist lediglich ein Metall, ein Element, welches die See in Hülle und Fülle hervorbringt. Meinst du, ich hätt’s den Fischern gegeben, wenn’s mehr als ein Spielzeug wäre? Nein, ich selbst bin mein Meisterwerk. Und mein einziges Meisterwerk!«
    Dr. Talos flüsterte: »Schau dich um – siehst du’s nicht? Es ist, wie er sagt!« »Was meinst du?« flüsterte ich zurück.
    »Die Burg? Das Monstrum? Den Gelehrten? Es ist mir gerade durch den Kopf gegangen. Sicherlich weißt du, so wie die großen Ereignisse der Vergangenheit ihre Schatten durch die Zeitalter werfen, so fallen auch jetzt, da die Sonne der Finsternis zustrebt, unsere Schatten in die Vergangenheit, um die Träume der Menschheit zu bedrücken.«
    »Du bist verrückt«, sagte ich. »Oder machst Scherze.«
    »Verrückt?« brummte Baldanders. »Du bist verrückt! Du mit deinem Wundertäterwahn. Wie werden sie über uns lachen. Sie halten uns allesamt für Barbaren … Mich, der ich drei Leben lang geschuftet hab’.«
    Er streckte den Arm aus und öffnete die Hand. Die Klaue erstrahlte nun für ihn. Ich griff nach ihr, aber er warf sie flugs hinaus und hinab. Wie blitzte sie in der regennassen Finsternis! Es war, als wäre der helle Skuld vom Nachthimmel gefallen.
    Daraufhin vernahm ich den gellenden Schrei der Eiländer, die vor der Mauer warteten. Ich hatte ihnen kein Signal gegeben; doch das Signal war vom einzigen Akt gegeben worden, der mich, abgesehen von Tätlichkeiten gegen meine Person vielleicht, dazu bewogen hätte, es auszulösen. Terminus Est fuhr aus der Scheide, noch während der Wind ihren Schlachtruf herantrug. Ich holte mit der Klinge aus, aber ehe ich dem Riesen auf den Leib rücken konnte, war Dr. Talos zwischen uns gesprungen. Ich hielt die Waffe, womit er meinen Schlag parierte, nur für seinen Gehstock; hätte mir der Verlust der Klaue nicht das Herz gebrochen, hätte ich beim Zuhauen darüber gelacht. Aber meine Klinge klirrte gegen Stahl, und obschon sie die seine heftig zurückprallen ließ, konnte er meinen Hieb abfangen. Baldanders war losgestürmt, ehe ich es mich versah, und schleuderte mich gegen den Zinnenkranz.
    Ich vermochte nicht, dem Stoß des Doktors auszuweichen, aber er ließ sich wohl durch meinen rußschwarzen Mantel in die Irre führen, denn seine Spitze fuhr, obgleich sie mich an den Rippen streifte, in den Stein. Mit meinem Schwertheft dreinschlagend, streckte ich ihn nieder.
    Baldanders war nirgendwo zu sehen. Rasch wurde mir klar, daß sein grimmiger Sturm eher der Tür hinter mir gegolten und er mich ganz beiläufig umgerammt hatte, wie jemand, der auf andere Dinge bedacht ist, eine Kerze auslöscht, ehe er das Zimmer verläßt.
    Der Doktor lag, alle viere von sich gestreckt, auf dem Pflaster des Turmdachs, dessen Steine im

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