Das Schwert des Sehers
wahrnahm, eine Gestalt besessen hätte, so hätte es die Form eines kleinen Drachen gehabt.
»Es kommt«, flüsterte er Meris zu.
Das Wesen – der Geist, der Dämon, was immer es war – kam durch die Luft von Westen heran. Es zog über die Dächer, beschrieb einen Kreis um die Spitze des Erkers und verschwand dann geradewegs durch das einzige erleuchtete Fenster ganz oben.
Dauras wartete einen Augenblick, dann drehte er den Gürtel mit dem Schwert nach hinten und fuhr mit den Handflächen über seine Kutte.
»Dann mache ich mich mal auf den Weg.«
»Ich habe nichts gesehen«, wisperte Meris. »Willst du wirklich dort hinauf?«
Dauras nickte. »Ich muss wissen, was die Hexe treibt. Hast du etwas gefühlt?«, flüsterte er zurück.
»Es ist kalt«, erwiderte Meris. »Und du hast mir gesagt, dass etwas kommt. Das würde jeden erschaudern lassen.«
»Halte aus«, sagte Dauras. »Und pass auf, dass mich keiner sieht, während ich an der Mauer hänge. Und erstatte der Kaiserin Bericht …« Er grinste. »… falls der Köder verschluckt werden sollte.«
Dauras huschte über den Hof. Er legte die Hand an die Wand des Erkers und spürte der Struktur des Mauerwerks nach bis hinauf zur Spitze. Deutlich nahm er den Weg vor sich wahr, die Tritte und Fugen, die ihm Halt geben konnten. Er schob die Fingerspitzen in einen Mauerspalt, zog sich hoch, und schon kletterte er an der scheinbar glatten Wand empor, ohne Halt, ohne Zögern.
Es lag nun fast einen Monat zurück, dass ihm das Bleigeschoss an die Hand geschlagen war. Die Schwellung war abgeklungen, aber die Finger schmerzten, wenn er sie belastete. Dennoch, sie trugen sein Gewicht, und er brauchte nicht länger für den Weg hinauf, als wenn er die Treppe genommen hätte.
Zwei Handbreit unter dem Sims des offenen Fensters hielt er inne. Mit seinen Sinnen erfasste er den Raum dahinter, ein großes Zimmer mit einem niedrigen Kamin, einem Tisch in der Mitte und mehreren Regalen, Schränken und kleineren Tischchen an den Wänden. Das Ding, das er erspürt hatte, saß auf dem Tisch. Sortor hockte davor auf einem Schemel. Dauras hörte ihre Stimme durch das Fenster, und die leisen zischelnden Worte des kleinen Drachen. In dem Gezischel allerdings schwang noch ein anderer Unterton mit, so als würde ein Mann aus der Ferne durch eine züngelnde Flamme reden.
Dauras klebte an der Wand wie eine Spinne und lauschte.
»… bin kein Gesandter«, sagte die zischelnde Stimme mit dem tiefen Beiklang. »Ich habe keine Zeit für so etwas. Meine Forschungen …«
»Deine Forschungen werden sehr darunter leiden, wenn es zum Krieg kommt.«
Die Stimme lachte. »Das glaube ich nicht. Krieg ist gut. Tote und Gefangene, von denen ich welche abzweigen kann. Ritter und ihre Herren, die in die Schlacht ziehen und unsereins in Ruhe lassen. Ganz anders als jetzt, wo ich in dieser Provinz feststecke und nicht einmal einen ruhigen Raum für mich habe.«
»Wenn der Wohlstand deines Herrn wächst und du deinen Beitrag dazu leistest, wird der Graf gewiss ein wenig mehr für dich abzweigen.«
»Vielleicht. Oder er wirft mich wieder hinaus, wenn ich ihm einen Vorschlag des Kanzlers unterbreite. Du bietest mir wenig, Sortor.« Die dunkle zischelnde Stimme klang vorwurfsvoll. »Du hast meinen Platz eingenommen, du sitzt auf allem, was ich in der Hauptstadt aufgebaut habe, und jetzt soll ich dein Laufbursche sein?«
Dauras hörte ein Scharren aus dem Raum. Sortor beugtesich vor, dichter an das Geistergeschöpf auf dem Tisch heran. Ihre Stimme wurde leiser, aber drohend:
»Hör zu, du unbedeutender Popanz von einem Zauberer! Dein Platz interessiert mich genauso wenig wie Fliegendreck am Fenster! Ich hatte einen eigenen Palast an den Hängen des Ephelgrat, und die wandernden Stämme haben mich als Göttin verehrt. Ich habe mir ein Reich aufgebaut und hatte meine Hände schon nach Süden ausgestreckt, als mir der scheinheilige Mahdi und seine dressierten Affen alles genommen haben.
Also heul mir nicht die Ohren voll darüber, was du verloren hast oder was ich dir genommen habe. Ich will zurückhaben, was mir gehört! Und dafür brauche ich deine pissige kleine Grafschaft und noch viel mehr. Du darfst mir also dienen und zu deinem Grafen laufen und ihm mein Angebot übermitteln, oder ich werde dich von hier aus zertreten, ohne meinen Erker überhaupt zu verlassen. Ich werde deine Eingeweide über den ganzen Schweinekoben verteilen, den du jetzt deinen Wohnsitz nennst … Runnik, hörst
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