Das Schwert des Sehers
du mir zu?«
Die zischelnde Stimme antwortete nicht mehr. Dauras spürte, wie etwas aus dem Raum verschwand, eine Art weitere Dimension, die dem Geisterdrachen angehaftet hatte und die ihm, Dauras, erst jetzt bewusst wurde, als sie nicht mehr da war.
Sortor schrie zornig auf. Sie packte den kleinen Geist mit Fingern, deren Fleisch mit einem Netz von Kraft umsponnen war. Sie schleuderte die Kreatur in den Kamin, und die Flammen darin loderten höher auf und veränderten sich. Dauras sah eine feurige Kugel in seinem Geist, einen Lichtblitz, der ihm die Seele zu verbrennen drohte … Dann zerbarst der Drachengeist, und eine heiße Lohe fegte aus dem Raum und über Dauras’ Kopf hinweg.
Seine innere Wahrnehmung wurde zu einem Schmerz, derseinen ganzen Kopf füllte, und mit einem Mal war er geblendet, und alle seine Sinne waren betäubt. Um ein Haar hätte er losgelassen, zwölf Schritt über dem harten Pflaster.
Mit tauben Fingern krallte er sich in das Mauerwerk, und als er sich ein wenig erholt hatte, stieg er langsam und mit zitternden Gliedern zu Meris hinab.
21.11.962 – HOROME
W as die beiden Fälle verband, war das Gift. Auch wenn das, was den Kaiser getötet hatte, kaum etwas mit den einfachen Heilmitteln gemein hatte, die sie beim Erzkaplan gefunden hatte, so erforderte doch beides Erfahrung mit tödlichen Substanzen.
Als Meris an diesem Vormittag über die Brücke zur kaiserlichen Insel schritt, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie wollte Bruder Hamur befragen. Als Apotheker am Tempelhospital war er der Mann, bei dem beide Spuren zusammenliefen. Opium und Eisenhut waren in der Apotheke des Hospitals zu bekommen.
Meris eilte die Hauptstraße entlang zum Tempel und zum Hospital. Sie wusste, wo Hamur arbeitete, und ging direkt zu dem Anbau, wo auf mehreren Stockwerken Heilmittel hergestellt und gelagert wurden.
Der Bruder Pförtner ließ sie durch, als sie ihm ihr Anliegen vortrug. Aber Hamur war nirgends zu finden. Meris sah sich in allen Räumen um, und schließlich wandte sie sich an eine Priesterin, die mit einem Büschel getrockneter Kräuter im Arm an ihr vorüberhuschen wollte.
»Ich muss zu Bruder Hamur«, sagte sie. »Und zwar sofort.«
Die Schwester nickte. Sie legte die Kräuter auf einem Tisch ab und bedeutete Meris wortlos, ihr zu folgen.
Diese war überrascht, als sie die Pharmazie wieder verließen und in einen anderen Teil der Klinik gingen. Dort stiegen sie hinab in einen kühlen Keller. Die Lampen brannten hier besonders grell – die Flamme in den Glaskolben ließ ein feines Gitternetz darin gleißend erglühen. Die Priesterin trat zu einem Geistlichen und stellte ihm Meris vor.
»Bruder Einod. Eine Botin aus dem Palast möchte Bruder Hamur sehen.«
»Eine Botin aus dem Palast?« Der blasse Priester mit der unförmigen Nase hob die Brauen. »Meinetwegen«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass man sich selbst bei Hofe für Bruder Hamur interessiert.«
Er schloss eine Eisentür auf, die in einen weiteren Kellerraum führte, und nahm eine Lampe von der Wand.
Meris’ Blick fiel in das Innere des Raumes.
Ein Dutzend Tische waren darin, und an den Wänden standen Regale, Eimer und eine Wasserpumpe. Auf einigen Tischen lagen ausgestreckte menschliche Körper, nackt und bloß, auf anderen zeichneten sich die Umrisse von menschlichen Körpern unter weißen Tüchern ab.
Bruder Einod trat an einen Tisch heran und zog das Tuch weg. Meris blickte auf das Gesicht, das darunter verborgen gewesen war.
»Bruder Hamur.« Einod schüttelte den Kopf. »Das Leben ist ein Geschenk. Ich muss es wissen, ich arbeite seit Jahren nur mit den Toten. Unbegreiflich, dass ein Priester Bponurs es wegwirft und sich selbst vergiftet.«
»Kanzler Arnulf«, sagte Aruda. »Mir sind Beschuldigungen zu Ohren gekommen.«
Die Kaiserin hatte den Kronrat einbestellt. Die Runde war auf den inneren Kreis beschränkt: auf die Hofräte, den Kämmerer und den Kanzler.
Arnulf von Meerbergen erhob sich und wollte das Wort ergreifen. Areios von Luringen kam ihm zuvor. »Um Gottes willen. Ich hoffe, es geht nicht wieder um die Beschuldigungen, die dieser größenwahnsinnige Mönch ausstößt?«
Die Köpfe am Tisch wandten sich Luringen zu. Der Kanzler wies ihn zurecht: »Bitte, Hofrat. Ihr sprecht mit der Kaiserin.«
Dauras legte die Hand auf sein Schwert.
»Nein«, sagte Aruda. » Komtur vom Eiselstein …« Sie ließ den Namen auf die Anwesenden wirken. »… der Vertreter der Ritterorden in der Stadt hat
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