Das Schwert des Sehers
zuckte die Achseln. »Vielleicht haben Sie über Heilkräuter geredet. Bruder Bertin hatte einen kleinen Garten gleich bei der Hofkapelle.«
Anschließend besuchte Meris im Tempelhospital Schwester Gradis und Schwester Daria, zwei Heilkundige, die sich vor allem für die mittellosen Patienten einsetzten, dazu noch ein paar Priester von niederem Rang. Sie alle hatten nicht nur in Verbindung mit dem Erzkaplan gestanden, sie waren auch untereinander vertraut. Sie hatten regelmäßig in der Küche des heiligen Bezirks gemeinsam gespeist und lange miteinander geplaudert.
Es fühlte sich fast an wie eine Verschwörung unter Priestern. Doch zu welchem Zweck, und welche Verbindung gab es zum Tod des Erzkaplans oder gar des Kaisers? Meris nahm sich vor, diese Brüder und Schwestern genauer unter die Lupe zu nehmen und auch Leute aus deren Umfeld zu befragen. Zumindest war es eine vielversprechende Spur, und sie fühlte sich nicht mehr so hilflos in einem Morast gefangen wie bei ihren Verdächtigen bei Hofe.
Eine Priesterin stand noch auf ihrer Liste: Schwester Cendris, eine junge Geistliche, die in der Bibliothek des Tempels Dienst tat und ebenfalls zu dem Kreis um die Heiler gehört hatte. Ein weiteres Mal schritt Meris über den Platz auf die Kathedrale zu, der bereits tief im Schatten lag. Beim Pförtner der Bibliothek trug sie ihr Anliegen vor.
Der ältere Bruder hatte eine einfache braune Kutte an und gehörte offenbar zu irgendeinem Orden, der ein Armutsgelübde abgelegt hatte. Er blickte von Meris zu der Vollmacht, die sie im zeigte. Mit einem eigentümlichen Blick sah er dann wieder Meris an.
»Schwester Cendris wollt Ihr sprechen?«, wiederholte er. »Da kommt Ihr zu spät.«
»Warum?«, fragte Meris.
»Schwester Cendris hat sich in den Fluss gestürzt. Vor einem Monat schon.«
»Was?«, entfuhr es Meris. Noch ein Selbstmord! »Wisst Ihr, weshalb?«
Der Mönch schüttelte bedächtig den Kopf. »Der Tod des Kaisers ging ihr sehr nahe. Sie war zuvor niemals als eine glühende Verehrerin unseres weltlichen Herrschers aufgefallen, auch wenn sie eine übertriebene Sorge um die weltlichen Verhältnisse an den Tag gelegt hat.« Missbilligend schnalzte er mit der Zunge. »Wie auch immer, sie schien den Tod unseres Herrschers nicht verwinden zu können. Und nur zwei Tage später folgte sie ihm nach.«
Meris dachte darüber nach, ob sie in die kaiserliche Stadt zurückkehren oder gleich über die Marktbrücke nach Hause gehen sollte. Aber der Weg durch den Palast war kürzer, und die Stadt außerhalb der Insel war unruhig in den letzten Tagen: Der Kanzler hatte Unmut erregt, als er das Korn einsammeln ließ, nicht zuletzt durch die Art, wie er dabei vorging.
Es wurde bereits dunkel, und es war sicherer, die besser bewachten Straßen der Insel zu nehmen. Meris zog den Kopf ein vor dem schneidenden Wind, der mit dem Abend aufgekommen war, und schritt die Hauptstraße entlang.
Die »Schildkröte« am Tor zur kaiserlichen Stadt kannte sie und fragte sie nicht nach ihrer Berechtigung.
Meris eilte über den Exerzierplatz. Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter, und sie fuhr herum. Sie griff nach einem Dolch, doch im selben Augenblick wurde sie am Handgelenk gepackt.
»Ruhig, meine Liebe«, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr. »Fühlst du dich etwa verfolgt?«
»Dauras!« Meris schüttelte seine Hand ab. »Was schleichst du dich so an?«
»Weil ich es kann.« Dauras trat neben sie und wartete, bis sie weiterging. »Ich finde es immer wieder faszinierend, wie blind die meisten Menschen sind, ganz besonders, wenn man von hinten an sie herantritt.«
Meris glaubte, dass sie ein gutes Gespür für Gefahren besaß, selbst wenn der Gegner von hinten kam. Aber Dauras bewegte sich so lautlos, dass sie ihn nicht wahrnehmen konnte.
»Ich hoffe, irgendwann gerätst du an den Falschen, wenn du so mit deinen Fähigkeiten prahlst. Wie ich gehört habe, machst du dir ohnehin fleißig Feinde.«
»Keinen, der nicht schon vorher mein Feind gewesen wäre.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte Meris. »Ich hätte nicht übel Lust, dich auf meine Liste zu setzen. Nicht nur wegen deinen Spielchen. Du behinderst meine Aufgabe, wenn du herumläufst und grundlos Leute beschuldigst!«
»Wenn du einen Anschlag auf mich vorhast, dann stell dich hinten an«, entgegnete Dauras gleichmütig. »Das haben schon ein paar versucht, und wie du siehst, geht es mir ganz gut.«
»Ein paar?«, fragte Meris überrascht. »Außer dem
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