Das Schwert des Sehers
tauchte tief hinein. Sie atmete schwer, ihr Atem kam zischend unter der Maske hervor und blies ihm ins Gesicht. Einen Moment lang vergaß er alles.
Und dann war es vorbei, in einem fast schmerzhaften Augenblick.
Er merkte, wie das Mädchen zögerte.
»Oh. Ich verstehe, warum du der Schnellste bist«, sagte sie.
Sie klang enttäuscht. Ihre Begleiterin kicherte.
Dauras stand verwirrt da. Ihr warmer Leib war noch dicht an den seinen gepresst, und jetzt fühlte er den kalten Wind auf der nackten Haut. Er zupfte an seiner Kutte.
Das Mädchen zog ihre Tunika zurecht und schloss den Umhang.
»Wir … können weitermachen«, sagte Dauras. Er versuchte, das Gefühl wiederzuerwecken, das ihn soeben noch erfüllt hatte. Er sah das andere Mädchen an. »Soll ich …?«
Sie hielt ihren Umhang fest. Das Mädchen mit der Tunika schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich glaube, das reicht für diesen Abend. Wir haben uns von der Feier meines Vaters fortgeschlichen. Er will nicht, das wir uns die Liebhaber auf der Straße suchen.«
»Aber«, wandte Dauras ein, »soll an diesem Tag nicht jeder Leib die Gottheit empfangen, ungeachtet des Standes, so wie Bponur es vorsieht? So hat man es mir berichtet.«
Die beiden Mädchen lachten leise und schüttelten den Kopf.
»Es ist wohl nicht jeder gleichermaßen gläubig«, sagte das Mädchen mit der Tunika, »mein kleiner heidnischer Mönch.«
»Vor allem nicht jeder, der das ritterliche Blut hoch schätzt«, fügte ihre Freundin hinzu.
Dauras träumte von dem Mädchen.
Am nächsten Abend schlich er sich erneut aus dem Kloster und suchte nach ihr.
Die Straßen waren leerer als sonst. Am Tag nach dem Feiertag waren die Menschen müde und zogen sich früh zurück. Dauras streifte durch die einsamen dunklen Gassen. Er lauschte und schnupperte und ließ seine Sinne schweifen. Im Morgengrauen kam Regen auf und trieb ihn zurück in das Kloster.
Aber er gab nicht auf.
Auch in den folgenden Nächten schlich er durch die Stadt, und am Tag war er übermüdet und nicht bei der Sache während der Übungen.
In den Pausen verschwand er und verließ den Tempel, und wenn ein Lehrer ihn fragte, antwortete er ausweichend. Es war ihm nicht wichtig, was die Meister dachten. Sie konntenihm ohnehin nichts mehr beibringen – nur das Mädchen war von Bedeutung. Ihr Schatten war Tag und Nacht in seinen Gedanken, wann immer er einen Augenblick innehielt.
Die beiden Mädchen hatten Masken getragen, und sie hatten nicht verraten, woher sie gekommen waren.
Aber Dauras war kein gewöhnlicher Mensch. Seine Sinne drangen durch Masken und Mauern. Er dehnte seine Suche aus, und eines Abends fand er sie wieder, in einem ummauerten Landsitz abseits der Stadt, umgeben von Feldern und einer feuchten Wiese, die sich bis zum Fluss erstreckte.
Es ging bereits auf den Mai zu. Der Tag war sonnig gewesen, und der kühle Wind, der mit dem Sonnenuntergang von Norden über den Fluss strich, hatte die Wärme noch nicht ganz vertrieben. Es roch nach frischem Gras, und nach Narzissen und nach Hyazinthen in der Nähe des Hauses. Dauras vermeinte, in all den Düften auch eine Ahnung von ihr wahrzunehmen, von ihrer zarten Haut, wie er sie von jener Nacht vor zwei Dekaden in Erinnerung hatte.
Er nahm ihren Leib wahr hinter einem Fenster im ersten Stock. Mit seinem Geist spürte er den Strömungen nach, den Formen und dem Kreislauf ihres Blutes, bis er sich sicher war. Ihr Gesicht wirkte viel weicher und klarer, mit runden Wangen und großen Augen, jetzt, da die Maske aus Metall nicht mehr über ihren Zügen lag und sie verzerrte. Dauras hörte ihre Stimme, als sie ein Abendgebet murmelte, und er erkannte sie wieder.
Er stieß sich von der Mauer ab, nahm Anlauf und sprang bis hinauf auf ihren Fenstersims. Das Zimmer war klein, ein Bett stand darin, eine Truhe und ein Tisch. Ein Regal mit einer Handvoll Schriften und ein kleiner Schrein, der mit bestickten Tüchern verziert war.
Sie kniete davor und fuhr herum, als sie ihn hörte, und schrie erstickt auf.
»Pssst!«, flüsterte Dauras. »Ich bin es.«
»Du?«, fragte sie. Sie sah ihn an. Sie erkannte wohl seine Kutte, die Farben der Mönche des Schwertes. Aber da war nur Verwirrung in ihrem Inneren.
»Der Tag des Lebens. Weißt du noch?«
»Du!« Sie stand von dem Hocker auf, auf dem sie gekniet hatte und tat einen Schritt auf ihn zu. Die Wärme der Lampen hinter ihr umhüllte sie, und Dauras roch das duftende Öl, das darin verbrannt wurde. Es ließ
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