Das Schwert des Sehers
das Mädchen schweben wie auf einer Wolke.
»Was tust du hier?«, fragte sie. »Das … ist nicht richtig!«
»Ich musste dich wiederfinden«, sagte er.
»Es war das Fest des Lebens«, sagte sie. »Du kannst nicht einfach zu mir kommen. Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ich habe scharfe Sinne«, sagte er, und fügte hinzu, er wusste nicht, wie es ihm in den Sinn kam: »Die Liebe hat mich zu dir geführt. Ich liebe dich. Ich musste dich wiedertreffen.«
»Aber du bist ein Schwertmönch! Ihr feiert die Feste doch gar nicht!«
Dauras sprang von dem Sims in den Raum. Er trat auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich kann das Kloster verlassen. Wir können zusammen weggehen, wenn dein Vater diese Verbindung nicht will. Ich muss einfach bei dir sein.«
»Du bist verrückt.« Sie lachte unsicher. Dann kniff sie mit einem Mal die Augen zusammen. »Du bist … was ist mit deinen Augen?«
Er trat rasch auf sie zu und wollte sie in die Arme schließen. »Es ist nicht wichtig«, sagte er. »Ich brauche keine Augen, um deine Schönheit zu sehen.«
Sie wich zurück. Ihr Blick war auf sein Gesicht geheftet.Sie starrte in seine Augen. »Du bist blind! Was ist mit deinen Augen, ist das … eine Krankheit?«
»Lass doch die Augen.« Er trat zur ihr hin und umfasste sie mit den Armen. Er suchte ihre Lippen. »Lass uns zusammen weggehen. Ich … ich kann dir auch mehr bieten als in unserer ersten Nacht. Ich war damals zu überrascht. Du wirst sehen.«
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und drehte den Kopf zur Seite. »Lass …«, sagte sie. »Das ist … abscheulich. Nicht so nah …«
Ihre Stimme war schrill geworden. Sie schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Er spürte die Hiebe kaum, aber es war, als würde sie ihn tief im Inneren treffen. Er hatte das Gefühl, dass er nicht mehr richtig atmen konnte.
Dauras ließ sie los und wich zurück. »Ganz ruhig«, sagte er. »Erinnerst du dich nicht an unsere Nacht …«
Er vernahm Stimmen vor ihrer Kammer. Schritte, die sich eilig näherten.
Mit einem Sprung war er beim Fenster und sprang hinaus in die Nacht. Der Tumult in dem Landhaus blieb hinter ihm zurück. Dauras rannte weiter, bis er wieder im Kloster war und im Schlafsaal lag, und selbst da kam sein Herz nicht zur Ruhe.
Schmerz, Aufregung, Angst – er war so aufgewühlt, dass er in dieser Nacht kein Auge zutat. Er fragte sich, was mit ihm passieren würde. Ein blinder Schwertmönch war nicht schwer zu finden. Was würde geschehen, wenn der Abt von seiner Übertretung erfuhr?
Aber niemand stellte ihn zur Rede. Vielleicht hatte das Mädchen ihn nicht verraten, aus Furcht vor dem, was sie ihrem Vater dann noch enthüllen musste. Oder ihre Familie empfand mehr Angst vor dem Skandal als Zorn über das, was geschehen war. Dauras stürzte sich in seine Übungen, undeine Zeitlang war er demütiger und gelehriger, als die Meister ihn seit Jahren erlebt hatten.
Die Tage vergingen. Allmählich schwand Dauras Sorge, so wie die Liebe verblasst war. Es kam nichts mehr nach, und auch in Zukunft geschah in diesen Dingen nichts mehr, was er nicht schon bei seiner allerersten Liebe erlebt hatte: flüchtige Begegnungen, gerne im Dunkel, in rauschhafter Stimmung oder von Neugier getragen – und Ekel und Abscheu bei anderen Gelegenheiten.
Dauras hatte es bereits erlebt, er kannte das alles.
28.11.962 – HOROME, KAISERLICHE STADT
M eris schritt durch die lange Halle der Schreiber im Amt für Kurierwesen. Die erste Stunde der Nacht, die Trauerstunde, war schon fast um.
An einzelnen Tischen saßen die Schreiber in einer kleinen Lichtinsel und arbeiteten. Dann und wann huschten Boten herein und brachten Depeschen oder nahmen Papiere mit.
Meris trat so sicher auf wie ein Bote mit festem Ziel und Auftrag. Und genau das war sie auch, nur dass sie ihren Auftrag nicht vom Hofrat erhalten hatte!
Vor der Tür zu dessen Büro blieb sie stehen.
Sie zog einen Bund hervor, der auf den ersten Blick aussah wie ein Schlüsselbund, an dem jedoch lauter Werkzeuge klimperten. Sie hatte sich so gut wie möglich vorbereitet, aber den passenden Schlüssel hatte sie nicht besorgen können.
Fieberhaft stocherte sie mit einem kleinen Haken in dem Schloss herum, als würde der Schlüssel ein wenig klemmen. Keiner der Schreiber durfte bemerken, dass sie die Tür aufbrach. Wie viel Zeit blieb ihr, bevor es verdächtig wirkte?
Es knirschte in dem Schloss, und Meris drückte mit der Schulter gegen die Tür.
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