Das Schwert des Sehers
spüren. Er war aus der Grafenschule entflohen, die zum Tempel gehörte, und hielt sich darauf etwas zugute.
Dauras tastete sich auf die Hauptstraße hinaus. Dort waren nicht viele Menschen unterwegs, aber sie waren ständig in Bewegung. Kleidung schwang um ihre Beine, sie trugen Taschen und Körbe am Arm. Dauras konzentrierte sich auf das Wesentliche.
Fleisch wich aus seiner Wahrnehmung, Stoff verblasste. Das harte Metall leuchtete in seinem Geist.
Er rannte los.
»Na warte!« Ranis lief hinter ihm her. »Ich krieg’ dich, du Bengel!«
Er sauste zwischen den Beinen der Passanten hindurch. Ranis tat so, als wäre sie ihm auf den Fersen. Sie hätte ihn nicht erwischt, selbst wenn sie es ernsthaft versucht hätte.
Dauras lachte.
Er huschte an einem großen Mann vorbei und fühlte die wohlgefüllte Börse an dessen Gürtel. Dauras schlug einen Haken. Er erfasste die Augen des Fremden. Der verzog das Gesicht und stieß den Straßenlümmel entschlossen weg. Dauras fasste zu.
Er brauchte nur einen Augenblick, um den Geldbeutel zu öffnen und hineinzufassen. Er nahm die schwersten Münzen, so viele, wie seine kleinen Finger eben halten konnten.
Er duckte sich unter dem Griff des Mannes weg und lief davon.
Der Große hatte nichts bemerkt.
Dauras verschwand in einer Seitengasse, Ranis kam fluchend hinter ihm her. Sobald sie um die Ecke waren, lachte Ranis auch.
»Was hast du? Was hast du?« Eifrig streckte sie die Hände aus. »Oooh!«
Sie nahm das Geld an sich.
»Alan kann einpacken«, erklärte sie verächtlich. »Aber sag das nicht zu laut, sonst knöpft uns der alte Thusa zu viel ab, und dann dauert es länger bis wir stinkreich werden.«
»Ist doch egal«, sagte Dauras. »Ich hole einfach noch mehr.«
Er lief wieder auf die Hauptstraße zurück. Ranis kam hinter ihm her.
»Warte«, rief sie. »Übertreib es nicht.«
Sie folgte ihm, aber sie erwischte ihn nicht. Das ältere Mädchen war schneller als Dauras, er jedoch war um einiges wendiger. Er schlug Haken, und wenn sie zu nahe kam und nach ihm fasste, wich er im letzten Augenblick aus, sodass ihre Finger gerade noch seine Jacke streifen. Ranis war genauso plump wie die anderen Großen, und Dauras fühlte, dass sie in diesem Moment selbst nicht wusste, ob sie lachen oder sich ärgern sollte.
»Dauras!«, rief sie. »Warte doch.«
Er lief leichtfüßig zwischen den Menschen hindurch, die zum Marktplatz strebten. Er war wie ein Hecht, der zwischen Karpfen jagte.
Eine weitere wohlgefüllte Geldbörse erregte seine Aufmerksamkeit. Das Echo daraus war so schwer, dass es seinen Kopf zum Klingen brachte.
Der Mann, an dessen Gürtel sie hing, schritt sorglos aus. Er trug ein so langes wallendes Gewand, dass Dauras sich einen Augenblick fragte, ob es nicht eine Frau in einem Kleid war … Nein, es war eindeutig ein Mann, und ein hochgewachsener dazu!
Er sauste hinter dem Fremden her und griff zu. Finger schlossen sich um sein Handgelenk.
Dauras wehrte sich. Doch die Finger hielten ihn eisern fest.Der Mann hatte ihn erwischt! Das war Dauras noch nie passiert.
»Ranis!«, rief er.
Gerade war sie noch bei ihm gewesen, jetzt nahm er nichts mehr wahr von seiner großen Freundin.
»Was für eine diebische Elster.« Der Große beugte sich zu ihm herab.
»Lass mich los!«, schrie Dauras.
»Du bist schnell«, sagte der Fremde. »… und du bist blind! Dennoch kannst du sehen.«
Dauras trat nach ihm. Doch der Mann schien es gar nicht zu bemerken. Er lockerte den Griff ein wenig, sodass die Finger fast sanft um Dauras’ Handgelenk lagen, doch sosehr dieser auch zog und zerrte, er konnte sich nicht befreien.
»Deine Gaben sind als Taschendieb verschwendet, fürchte ich. Hat dich das Schicksal zu mir geführt?«
»Lass mich los.« Dauras stiegen die Tränen in die Augen. »Bitte.«
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte der Fremde.
Dauras schüttelte den Kopf.
»Ich bin Thurid.« Er schien auf etwas zu warten, aber Dauras kannte den Namen nicht. Als der Junge nicht reagierte, fügte Thurid hinzu: »Seit Kurzem bin ich der Abt im Kloster des Schwertes. Und ich glaube, die Geister haben dich für mein Haus bestimmt.«
Dauras sträubte sich, doch der Abt zog ihn hinter sich her. Er lobte Dauras – seine Schnelligkeit, seine Sinne und seinen Kampfgeist. Bald ging der Knabe neben ihm her und hörte zu. Der Fremde bot ihm eine neue Familie an, eine, die ihn schätzen würde, und die Möglichkeit, zu lernen.
Er versprach ihm, dass er ein großer
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