Das Schwert des Sehers
vermochte. Er nutzte die Sinne, die ihm zu Gebote standen – Gehör, Geruch, Gefühl –, und er dachte nicht mehr an das, was er nicht wahrnahm. Er musste es einfach riskieren.
Die Stimmen seiner Verfolger blieben hinter ihm zurück.
»Verflucht, er hat ihm die Hand abgeschlagen!«
»He, lasst ihn nicht laufen. Hinterher!«
Doch Dauras hörte keine Schritte hinter sich. Er nahm auf der Seite einen Schatten wahr, bog ein – und gelangte tatsächlich in eine kleinere Gasse. Er bog noch zwei Mal ab, stieß gegen Hausfronten, stolperte. Dann stürzte er über eine Stufe, die er nicht bemerkt hatte, und fiel der Länge nach hin.
Er verlor sein Schwert. Hatte nicht die Zeit, danach zu tasten, und lief weiter.
Jetzt hörte er auch die Stimmen der Verfolger wieder hinter sich.
»Er ist da lang!«
Dauras rannte und bog wieder ab. Er verschätzte sich in der Entfernung und stieß mit der Schulter gegen eine Hausecke. Dann wollte er in eine Gasse einbiegen, doch da war keine, und er prallte gegen eine geschlossene Haustür. Es dröhnte, und er roch Blut in seiner Nase. Benommen lief er weiter und tastete mit den Händen.
»Da ist er. Ich kann ihn sehen!«
Die Ritter des Kanzlers holten ihn ein. Dauras bog ab. Er hörte ein leises Geräusch vor sich. Einen Wind … Blätter … Nein.
Während Dauras noch darüber nachdachte, lief er wieder gegen eine Mauer. Sie reichte ihm kaum bis zur Brust, darum hatten seine tastenden Hände sie nicht rechtzeitig bemerkt. Er prallte mit dem Bauch gegen die Mauerkante und stieß sich das Knie an, sodass er zusammensackte.
Er rappelte sich wieder auf. Das Geräusch, das er gehört hatte, ertönte direkt hinter der Mauer. Ein Glucksen und ein Plätschern. Es war der Fluss.
Dauras überlegte, in welche Richtung er gelaufen war. Aber schon ertönten hinter ihm Stiefeltritte. Er hörte Rufe. Seine Verfolger kamen näher, und ihnen war nicht mehr zum Spielen zumute.
E s muss Osten sein.
Wenn er nach Westen gelaufen war, dann lag unterhalb der Flussmauer kein Wasser, sondern ein kleiner, steiniger Uferstreifen. Wenn er nach Osten oder Südosten gelaufen war, dann lag ein breiter Uferstreifen unter der Mauer. Aber er hatte keine Wahl, er musste es wagen.
Er stieg auf die Mauer und spürte, wie seine Beine zitterten. In der Ferne sah er Lichter, klein und schwach, nicht mehr die schmerzhaften Lichtspeere, die ihn im Haus des Kanzlers getroffen hatten. Davor eine schattenhafte Bewegung, die ihn schwindeln machte.
Er richtete sich auf, stand kerzengerade auf der Mauerkrone. Hinter ihm schrie einer der Ritter. Die Schritte klapperten schneller über das Pflaster.
Die unklare Bewegung, überlegte Dauras, musste Wasser sein. Er fragte sich, ob dies das Letzte war, was er sehen würde. Dann holte er Schwung und sprang so weit er nur konnte.
Die Zeit dehnte sich. Er fühlte den Wind an seinen Ohren. Er sprang in eine Leere hinein, die sich nicht greifen und ordnen ließ. So musste die Welt ausgesehen haben, in der Stunde vor der Schöpfung. Es fühlte sich an, als würde er fliegen.
Das eiskalte Wasser schlug über seinem Kopf zusammen. Dauras strampelte und kam wieder an die Oberfläche. Er schnappte nach Luft. Er ruderte mit den Armen und schwamm mit aller Kraft, aber die Strömung zerrte an ihm. Er fühlte, wie Strudel nach seiner Kutte griffen.
Dauras hob den Kopf aus dem Wasser. Er versuchte, die Lichter wiederzusehen, darauf zuzuschwimmen. Er kämpfte gegen den Strom an. Ohne seinen Raumsinn, mit den nutzlosen Augen, der Geruchsinn und das Gehör vom Flusswasser gedämpft, und mit der Kälte, die ihm langsam das Gefühlaus den tauben Gliedmaßen trieb, war ihm zumute, als hätte er die Welt längst verlassen.
Dauras kämpfte, aber die Dunkelheit verschlang ihn.
EPILOG
A uf einem Hügel hielt Ritter Lacan inne. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf den Sattelknauf. Sobrun neben ihm hielt sein Ross, und gemeinsam sahen sie auf die Küste hinab, die vor ihnen lag. Unter dem sternklaren Winterhimmel glitzerte das Meer, an das sich auf einer Seite ein dunkler Fleck schmiegte, durchsetzt von winzigen Funken wie von Diamantsplittern.
Es war eine Stadt, die dem Ritter und seinem Begleiter zu Füßen lag.
Lacan von Galdingen atmete auf. »Wir sind daheim.«
Sobrun kniff die Augen zusammen. »Ist das Meerbergen?« Der Söldner wusste mittlerweile, dass das Landgut seines Herrn in der Nähe dieser bedeutenden Küstenmetropole lag.
Lacan schüttelte den Kopf.
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