Das Schwert des Sehers
Schwertkämpfer werden könnte.
Dauras wusste nicht, was das bedeutete. Aber er wusste,was es hieß, der Beste zu sein. Er mochte es, bewundert zu werden. Schneller und besser als irgendjemand sonst – das war etwas, was er sein wollte.
Als der Abt die Besorgung erledigt hatte, um deretwillen er in die Stadt gegangen war, folgte Dauras ihm bereitwillig zum Tempel. Und auch wenn dort nicht alles so war, wie die Worte des Abts ihn hatten glauben lassen, so kannte er bald kein anderes Zuhause mehr.
Er vergaß, wie er in den Tempel gekommen war. Der Abt sprach mit Dauras’ Eltern. Dauras fragte nicht danach, und selbst später, als ihm Zweifel an dem Leben im Tempel kamen, hatte er nie daran gedacht, seine Familie zu suchen, mit seinen Eltern zu reden oder gar zu ihnen zurückzukehren. Er vergaß sie schlichtweg, so wie alles, was vorher gewesen war. Er vergaß sogar, dass der Abt sich ihm irgendwann einmal mit seinem Namen vorgestellt hatte und etwas anderes war als »der Abt«.
Aber niemals vergaß er, wohin er wollte und wer er war – das Versprechen, das ihn bewogen hatte, mit dem Mönch zu gehen und bei ihm zu bleiben.
Du hast mehr als eine Gabe, Dauras. Du kannst ein großer Kämpfer werden, wenn du dem Weg des Schwertes folgst.
Das ist dein Schicksal, Dauras.
3.1.963 – HOROME, OSTLICHE UNTERSTADT
D auras wusste nicht, wo er war. Aber als er die Augen aufschlug, da wusste er sofort, dass er noch lebte. Das Licht kehrte zurück.
Gerade eben, in seinem Traum, war die Welt so gewesen, wie er sie kannte. Während seiner Kindheit auf den Straßen von Sir-en-Kreigen hatten seine Sinne noch nicht dieselbe Schärfe entwickelt wie in späteren Jahren. Dennoch hatte seine Art der Wahrnehmung stets eine Klarheit gehabt, die ein einziges Blinzeln heute zerstören konnte.
Er sah tanzende Flecken und wabernde Schatten, Formen und Bewegungen, die er nicht auflösen konnte. Er wollte schreien, doch sein Hals war zu trocken. Er wollte sich übergeben, doch sein Magen war leer. Er schloss die Augen, und die Dunkelheit, die eintrat, tat ihm wohl.
Sie ließ Raum für die anderen Sinne.
Er fühlte ein weiches Lager unter sich. Ein Kissen. Er lag in einem Bett, doch er wusste nicht, wie er hierhergekommen war.
»Du bist wieder wach«, sagte eine Stimme. »Dann lass uns etwas Brühe in dich hineinschütten, bevor du das nächste Mal wegsackst.«
Es war die Stimme der Botin … Warum war der Klang, das Gefühl, der Geruch nur so klar, und warum waren die Augen, von denen alle immerzu sprachen, so nutzlos?
Er hörte die Botin herumhantieren. Holz schlug klangvoll gegen Metall. Eine Flüssigkeit schwappte. Dauras rief sich ihr Heim ins Gedächtnis. Er versuchte, den Hall der Geräusche und den Raum, an den er sich erinnerte, in Einklangzu bringen. Doch er schaffte es nicht. Er konnte sich nicht orientieren und bekam keine Vorstellung von dem Ort, an dem er lag.
Er roch Schweiß und Moder und Asche. Die Glut eines heruntergebrannten Feuers knackte leise. Die Luft war schwer und stickig, und das Zimmer fühlte sich kleiner an als die Stube in der Unterstadt, wo er die Botin, ihr Kind und die Amme besucht hatte. Hatte sie ihm etwa ein Lager in ihrer Küche bereitet?
Er spürte ihre Hand auf der Stirn. »Das Fieber ist weg«, stellte sie fest. »Endlich. Vielleicht bleibst du dieses Mal wach. Vielleicht überlebst du sogar.«
»Was ist geschehen?«, fragte er.
»Sag du es mir«, sagte Meris. »Ich habe nur eine Menge Gerüchte gehört. Und ich habe dich vor meiner Tür gefunden. Zwei Zehnttage ist das jetzt her. Du warst durchweicht wie ein Putzlappen und bist auf meiner Türschwelle umgekippt.«
»Zwei Zehnttage …«, murmelte Dauras.
»Du hast Fieber bekommen«, fuhr Meris fort. »Die meiste Zeit lagst du im Delirium. Wenn du wach warst, habe ich getan, was ich konnte. Trotzdem ist es ein Wunder, dass du noch lebst. Trink das.«
Sie stützte Dauras’ Kopf und hielt ihm eine Schale an die Lippen. Sogleich wusste er, wo der ranzige Geruch herkam, der in dem Zimmer hing. Kalte Brühe rann ihm in den Mund. Er fühlte das erstarrte Fett als körnigen Belag auf der Zunge.
Dauras schluckte, prustete und versuchte, die Schale wegzuschieben.
»Bah!«, sagte er. »Was ist das für ein Zeug?«
»Hühnerbrühe«, sagte Meris. »Stell dich nicht so an. Bei dem Flusswasser warst du auch nicht so wählerisch. Da hast du kräftig zugelangt, hat der Heiler mir erzählt.«
»Du hättest die Suppe wenigstens warm
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