Das Schwert des Sehers
Stirn zu verbinden.
»Schnell bist du nach wie vor«, erklärte Meris dabei. »Vielmehr, du bist es wieder ! Wenn du reagierst oder zuschlägst, kann ich nur schwer dagegenhalten. Aber du zögerst immer kurz, sobald ich mich bewege, und vor jedem Angriff hältst du erst einmal einen Augenblick inne. Außerdem verschätzt du dich oft und schlägst ins Leere. Wenn wir das alles wegbekommen, könntest du fast wieder der Alte sein.«
»Ich sehe die Farben und die Bewegung«, sagte Dauras. »Mit den Formen habe ich Probleme … und mit … Wie soll ich es nennen? Mit der Lage! Ich kann kaum abschätzen, wie weit entfernt etwas ist, ob es auf dem Boden liegt oder ob es vor mir im Raum steht. Sobald es sich allerdings bewegt, wird es einfacher.«
Mitunter glaubte er, dass er einen Durchbruch erzielt hatte, dass er gelernt hatte, seine Augen zu gebrauchen. Doch immer dann geschah etwas, das ihn vom Gegenteil überzeugte: Mal übersah er einen Hund, der reglos, aber für jeden anderen gut sichtbar vor ihm auf dem Boden lag oder er verwechselte ein Fenster mit einer Tür oder tat sonst etwas völlig Unmögliches.
Wenn er überhaupt Fortschritte machte, überlegte er, lag das weniger daran, dass seine Sinne sich verbesserten. Vielmehr lernte er, mit seinen Schwächen umzugehen und sich auf sie einzustellen.
»Dieses Zögern, von dem du sprichst … «, erklärte er. »Es rührt daher, dass ich erst warten muss, bis du dich bewegst, bevor ich darauf reagieren kann. Früher spürte ich die kleinste Muskelspannung meines Gegners und wusste, was er als Nächstes tun wird – oft sogar, ehe er selbst sich darüber im Klaren war.«
»Das ist nicht ungewöhnlich. Jeder erfahrene Kämpfer kann die Körperspannung seines Gegners deuten und die nächste Bewegung erahnen. Du musst einfach lernen, so etwas an den Augen deines Gegenübers abzulesen!«
»Wie soll ich mich im Kampf auf deine Augen konzentrieren?«, rief Dauras. Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus und hielt auf halbem Weg inne. »Ich bin froh, dass ich überhaupt dein Antlitz sehen und darin lesen kann, wenn wir uns gegenüberstehen. Und selbst das gelingt mir nur, weil ich es einmal berührt habe.«
Dünne Rinnsale nagten an den Abfällen und dem Unrat in der Gosse. Der Regen vertrieb den Gestank ein wenig, doch er konnte ihn nicht ganz aus der Luft waschen. Dauras ging hinter Meris her und konzentrierte sich auf ihre Schritte.
Dann und wann huschten gebeugte Gestalten an ihnen vorüber. Dauras konnte die Gesichter nicht ausmachen und wusste nicht, ob das an ihm lag oder daran, dass sich alle die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatten. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen, und er hatte das Gefühl, als würden sie aus den Hauseingängen und vom Straßenrand her beobachtet werden. Vermutlich war es nur seine Unsicherheit, die ihn so wachsam machte: Es fiel ihm schwer, Dinge oder Menschen zu bemerken, die dicht vor einem Hintergrund standen und sich nicht bewegten, und seine Vorstellungskraft füllte all die uneinsehbaren Winkel mit möglichen Gefahren.
In den letzten Dekaden hatte er eine unterschwellige Feindseligkeit gespürt, eine Stimmung, die über der Stadt hing und die er nicht ganz als Einbildung abtun konnte.
Meris blieb stehen, und Dauras wäre um ein Haar in sie hineingelaufen.
»Was ist?«, fragte er.
»Unruhe«, sagte sie. »Da ist einiges los vor uns.«
Dauras horchte. Er hatte das unbestimmte Rauschen in der Ferne längst wahrgenommen und es für das Geräusch des Regens gehalten. Aber wenn er die Augen schloss, konnte er sogar die Stimmen darin unterscheiden.
»Da zieht eine Menge Volk zum Hafen«, stellte er fest. »Und sie klingen nicht zufrieden.«
»Die Stadt hungert.« Meris klang angespannt. »Viele können sich die Lebensmittel nicht mehr leisten. Ich glaube, sie wollen die Lagerhäuser am Fluss stürmen. Die Truppen des Kanzlers haben schon ein paar kleinere Aufstände niedergeschlagen.«
»Das scheint uns ja nicht zu betreffen«, sagte Dauras.
Meris drehte sich zu ihm um. Er fand es immer noch faszinierend, in den Gesichtszügen zu lesen – auch wenn es nur ein schwacher Nachhall seiner früheren Wahrnehmung warund auch wenn Meris bislang die Einzige war, deren Gesicht er gut genug kannte, um die Nuancen wahrzunehmen. Jetzt wirkte sie gereizt.
Sie trat auf ihn zu. Dann schürzte sie nur die Lippen und meinte: »Es ist unser Problem, wenn wir in eine Straßenschlacht geraten. Wir sollten den Tumult
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