Das Schwert des Sehers
meiden.«
Sie bog in eine Seitengasse ab. Dauras beeilte sich, ihr zu folgen.
Er lauschte auf die fernen Rufe. Sein Gehör war feiner als das seiner Begleiterin. Er konnte Unterschiede heraushören und feststellen, wo der Kern des Aufruhrs war und wohin er sich bewegte.
Meris rechnete seine Angaben auf das Straßennetz um und wählte einen ruhigen Weg. Unbehelligt erreichten sie ihre kleine Wohnung, die im dritten Stock eines schäbigen Gebäudes ohne Fensterscheiben lag.
In der Stube zog Dauras seine nassen Sachen aus und streifte einen trockenen Kittel über. Er tastete am Herd herum und schürte das Feuer neu. Schließlich schüttelte er die Kannen und Töpfe.
»Kein Wasser mehr«, bemerkte er.
»Dann hol welches«, erwiderte Meris. »Wir haben einen Brunnen vor dem Haus – den wirst du ja wohl finden, wenn du mit deinem Stock tastest.«
»Du bist gereizt«, stellte er fest.
»Wie sollte ich nicht.«
Dauras dachte nach. »Die Unruhen in der Stadt. Die Teuerung. Haben wir denn ein Problem damit?«
Meris schüttelte den Kopf. » Wir haben kein Problem damit. Du hast ja gar keine Probleme, solange ich für alles bezahle.«
Dauras wich vom Herd zurück. Er blinzelte langsam. »Es tut mir leid.« Er versuchte immer noch, sich darüber klarzu werden, was genau Meris so aufbrachte. »Ich bin dir eine Last. Wenn du meinst, dass es sich nicht lohnt, werde ich weiterziehen. Oder hast du Angst, dass du uns nicht beide durch den Winter bringen kannst?«
»Weiterziehen.« Meris klang bitter. »Du würdest doch nicht einmal aus der Stadt hinausfinden …« Sie atmete tief durch und setzte sich aufs Bett.
»Entschuldige«, sagte sie. »Nein, wir kommen durch den Winter. Ich habe genug zurückgelegt in all den Jahren meines Dienstes. Ich konnte eine kleine Schatulle mit Münzen aus meinem alten Haus mitbringen. Allerdings hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich das Geld einmal hierfür ausgeben würde.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, entgegnete Dauras. »Du hast dein Haus verloren und deine Anstellung. Und jetzt musst du wegen mir auch noch deine Ersparnisse aufbrauchen.«
»Mein Haus und meine Anstellung?« Meris fuhr auf. »Ich habe meine Tochter verloren, du Dummkopf! Für sie hatte ich das Geld zurückgelegt. Ich wollte, dass sie versorgt ist, falls ich nicht zurückkehre. Sie sollte nicht als Grafenkind in einem Heim oder in einer Schule aufwachsen. Nicht so wie ich.«
Grafenkind … Das war kein Ehrentitel. Kinder, um die sich niemand kümmerte und die darum unter die Fürsorge des örtlichen Grafen kamen, wurden so genannt, wie Dauras wusste.
»Warum nicht?«, erwiderte er. »Du bist doch … Ich meine, du hast etwas gelernt. Du bist nicht so schwach wie die meisten Frauen, denen ich begegnet bin.«
In dem Augenblick, wo die Worte seinen Mund verließen, wusste Dauras, dass es nicht das war, was er eigentlich sagen wollte. Am liebsten hätte er sein Gesicht auf die Herdplatte gelegt, um seine Lippen zu versiegeln.
Warum fiel es ihm so schwer, ein Kompliment zu machen? Es war schon immer so gewesen, doch erst jetzt wurde es ihm bewusst: Er konnte einfach nichts Gutes über einen Menschen sagen, ohne es gleich wieder halb zurückzunehmen, allein durch die Art, wie er es ausdrückte. Ein offenes Lob auszusprechen fühlte sich an, als würde er sein Schwert wegwerfen und sich mit ausgebreiteten Armen vor einen Menschen hinstellen, ohne jede Deckung.
Meris saß eine Weile da. Dann hob sie den Kopf. »Ich will dir erzählen, was ich gelernt habe.
Ich war zwölf, als ich nach Sir-en-Kreigen kam – in jene Schule, die der geheime Botendienst des Kaisers im Schatten eures Tempels unterhält. In unserem ersten Jahr dort sollten wir nicht nur das Kämpfen lernen, sondern zugleich das ritterliche Leben. Damit wir uns gut genug auskannten, um später jederzeit und glaubhaft in die Rolle eines Edlen zu schlüpfen.
Wir hatten Lehrer, die uns beibrachten, was man dafür wissen muss: die richtige Sprache, die passende Kleidung. Alles über Schmuck und Symbolik und Wappen- und Familienkunde, über die ritterlichen Tugenden und die erlaubten und die verbotenen Tätigkeiten. Aber wichtiger als dieser Unterricht war das Leben in der Schule selbst.
Wir sollten dem ritterlichen Kodex folgen und ihn verinnerlichen. Jeder Verstoß dagegen wurde bestraft. Wir durften nur tun, was ein Ritter tut, nur reden, wie ein Ritter redet. Und am Ende unserer Ausbildung, als wir gelernt hatten, was es
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