Das Schwert des Sehers
sich zu ihm um. Er sah den Zorn in ihrem Gesicht.
»Ich muss mich auf das Sehen konzentrieren«, erklärte Dauras. »Und das strengt mich an. Der Kanzler hat etwas vor, und am ehesten bemerken wir ihn, sobald er tut, weswegen er gekommen ist. Das wird nicht ruhig vonstatten gehen. Es wäre dumm, wenn wir dann zu erschöpft wären, um zuzuschlagen.«
»Wenn der Kanzler handelt, wird er von seinen Männern umgeben sein«, widersprach Meris. »Ich würde es vorziehen, wenn wir ihn vorher finden und uns Zeit und Ort für den Kampf aussuchen können. Außerdem wäre es mir lieb, wenn du nicht hier in aller Öffentlichkeit daherplaudern würdest.«
Sie wandte sich wieder ab und bahnte sich weiter den Weg durch eine Menge, die für Dauras nur ein buntes Gewimmel war, ein Meer von wirbelnden Farben. Er hatte das Gefühl, dass sie sich im Kreis bewegten, und vermutlich lag er nicht falsch damit. Meris durchstreifte die Gegend zwischen Hafen und Markt, wo es am belebtesten war.
Was, wenn Kanzler Arnulf genau diese Ecke mied? Dauras überlegte gerade, ob er Meris seine Überlegungen mitteilen sollte, da hielt sie so unvermittelt inne, dass Dauras in sie hineinlief. Meris drehte sich um, sie schob Dauras zur Seite und ging langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie bewegten sich gegen den Strom, und Dauras hatte Mühe, nicht von der Menge mitgerissen zu werden.
Einen Augenblick lang geriet er in Panik. In dieser brodelnden Stadt würde er nicht einmal mehr das Haus finden, in dem sie ein Zimmer genommen hatten.
»Meris, warte!« Er packte sie am Umhang.
»Pssst«, zischte Meris. »Willst du meinen Namen noch ein bisschen lauter rufen.«
Dauras wollte patzig antworten. Meris hatte selbst oft genug erwähnt, dass ihr Name so verbreitet war und dass fast jede dritte Frau in ihrer Straße genauso hieß. Wer also sollte auf sie aufmerksam werden, wenn er diesen Namen rief?
Doch er verkniff sich die Bemerkung und fragte: »Was ist?«
»Der Priester!«
»Was für ein Priester?« Dauras sah sich um. Im ersten Augenblick hielt er nach der Kutte seines Ordens Ausschau, aber natürlich meinte Meris einen Priester von Bponur. Dauras suchte nach einer roten oder goldene Robe, doch die Menge um sie herum war ein Meer aus bunten Kostümen, und es war unmöglich für ihn, einzelne Gewänder zu unterscheiden. »Wo?«
»Muss ich erst darauf zeigen?«, herrschte Meris ihn an.
Sie lösten sich aus dem größten Trubel und gelangten in eine Seitenstraße, wo es ein wenig ruhiger zuging. Wagen fuhren auf der Straße und drängten die Fußgänger an den Rand.
Meris beschrieb eine Geste mit dem Kopf. »Da vorn«, sagte sie. »Der Priester des alten Reiches.«
Dauras starrte in die angewiesene Richtung. Doch er konnte nichts erkennen, was ihn an den Kanzler erinnerte. Er hatte gehofft, dass er ihr Ziel vielleicht an der Bewegung erkannte, wenn schon sein Sehvermögen nicht so verlässlich war. Bewegung war das Einzige, was er überraschend klar erfasste.
»Die scharlachrote Gestalt dort vorn«, flüsterte Meris.
Dauras reckte sich. Da war ein scharlachroter Fleck vor ihnen, doch er wirkte eher klein und schmal. Dauras konnte diese Erscheinung nicht mit der Statur des Kanzlers in Verbindung bringen.
»Bist du sicher?«, fragte er. »Er kommt mir gar nicht vertraut vor.«
»Nicht der Mann«, antwortete Meris. »Das, was er trägt! Einen Stab mit dem Zeichen Bponurs, eine Art Zepter. Die Verkleidung ist gut, aber ich kenne das Ding, diesen Kreis mit den drei Zacken als Symbol der göttlichen Sonne.
Das ist kein Schmuckstück. Als ich es zuletzt gesehen habe, war es eine Axt – eine Axt mit einem golden glänzenden Blatt in der Form des heiligen Zeichens.«
Sie hatten die Fuhrwerke im Stall des Gasthauses untergebracht. Lacan schickte sein Gefolge in das Hauptgebäude, wo sie sich um die Räumlichkeiten kümmern sollten. Er selbst blieb mit Sobrun und Valdar zurück, um »die Ladung zu prüfen« … Was bedeutete, dass sie Arnulf aus seinem Fass befreiten.
Sie zogen die Plane von dem hinteren Wagen und kletterten auf den Truhen herum. Sie hoben hier einen Deckel, schoben dort umständlich einen Behälter zur Seite.
Der Stall war riesig, und es herrschte geschäftiges Treiben. Knechte gingen aus und ein und kümmerten sich um die Tiere. Gäste schauten nach dem Rechten, neue Gäste trafen ein. Die drei überlegten kurz, wie sie am unauffälligsten vorgehen konnten. Schließlich benutzten Valdar und Sobrun die Plane, um
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