Das Schwert des Sehers
schluckte. Es fiel ihm schwer, wegen der Klinge, die gegen seinen Hals drückte. »Ihr habt es gewusst«, stieß er hervor. »Ihr habt genau gewusst, was Euer Trank mit mir anstellt.«
»Sagen wir es so«, erwiderte der Kanzler selbstzufrieden. »Ich war neugierig.«
»Aber«, fragte Dauras, »wie konntet Ihr das wissen?«
Arnulf schnaubte. »Du meinst, nur ein Dämon könnte auf den Gedanken kommen, dass eine Heilung nicht immer nur Gutes bewirkt? Vielleicht hast du recht. Vielleicht hatte ich ein wenig Hilfe bei diesem Plan.
Andererseits, ich mag zwar ein Schwertkämpfer sein, genau wie du – doch im Gegensatz zu dir bin ich auch ein Mann des Geistes. Ich habe mich kundig gemacht, als du mir im Pelz gesessen hast wie eine Laus, die ich nicht loswerden konnte. Du würdest dich wundern, Dauras, was für erhellende Schriften man in den Tempeln findet.« Er sah auf Dauras hinab. »Du hättest die Gelegenheit nutzen können, weißt du das? Anstatt weiter hinter deinem Schwert herzulaufen, nachdem du die Gabe dafür verloren hattest, hättest du mit deinen neuen Fertigkeiten lesen lernen können.«
»Ich bin nicht gut im Sehen«, sagte Dauras. »Lesen zu lernen hätte mich genauso viel Mühe gekostet, wie den Kampf neu zu üben. Und wenn ich ein wenig mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich dabei so gut geworden wie früher.«
Er konnte es immer noch werden, wenn er nur lebend aus diesem Zimmer herauskam, dachte Dauras. Er würde kämpfen, und dann würde er lesen lernen, und am Ende würde er über den Kanzler triumphieren.
Doch Arnulf schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich«, erwiderte er. »Es gibt andere Fälle wie deinen. Selten, aber es kommt vor: Blinde, die ihr Augenlicht wiedererlangen. Ich habe ein halbes Dutzend dieser Fälle in der Bibliothek des Tempelhospitals beschrieben gefunden. Und weißt du was: Kein Fall ging gut aus.
Keiner fand jemals richtig ins Leben zurück.«
»Das ist Unsinn«, sagte Dauras. »Wie schwer kann es sein, das Sehen zu lernen? Jeder Mensch kann es, solange seine Augen gesund sind.«
»Das glauben sie alle, nicht wahr?«, gab der Kanzler zurück. »Das war das Beste an meinem Plan: Ich wusste, dass kaum einer deine Probleme verstehen würde, selbst wenn du die erste Nacht überleben solltest. Die meisten Menschen denken, dass Sehen ganz von selber funktioniert. Sie hätten dich bloß ausgelacht, wenn du geklagt hättest, ich hätte einen Anschlag auf dich verübt.
Aber wir beide, wir wissen es besser, nicht wahr? Und nach den Fällen zu schließen, von denen ich gelesen habe, wird es auch so bleiben. Du kannst ein wenig lernen und dich besserzurechtfinden. Doch du wirst niemals so selbstverständlich sehen können wie ein normaler Mensch.
Du wirst immer ein Krüppel bleiben.
Sei also froh, dass es heute enden wird. Ich erspare dir einen jahrzehntelangen mühsamen Kampf zurück ans Licht … Den du am Ende trotz allem verlieren würdest.«
Dauras fühlte, wie der Arm mit der Klinge sich anspannte.
»Wartet«, rief er. »Was … Wie … Woher konntet Ihr wissen, dass meine anderen Sinne geschwächt werden?« Der Kanzler schüttelte den Kopf. Er kniff die Augen unter dem Helmrand zusammen. »Sieh dich an, Dauras, wie erbärmlich du geworden bist. Du redest doch nur, um Zeit zu schinden, um ein paar zusätzliche Atemzüge in deiner geschlagenen Existenz auf Erden zu gewinnen. Das ist eine Schwäche, die ich nicht voraussehen konnte.
Was dein magisches Sehen anbelangt – diese Fertigkeit ist nicht so einzigartig. In der Kirche ist man damit wohlvertraut. Und alle sind sich einig: Es ist an die Blindheit gebunden. Das Licht der Augen löscht die Gabe aus.
Ich habe gehört, dein Orden strebt nach Wissen. Du hättest so viel über dich erfahren können, wenn du diesem Weg gefolgt wärst, anstatt in die Welt zu ziehen und dich zu messen. Jetzt ist es zu spät. Ich kann keine Zeit mehr mit dir vergeuden, kleiner Mönch, denn ich habe heute eine Schlacht zu schlagen in dieser Stadt. Du kannst gleich deine Götter fragen, ob sie zufrieden sind mit der Art, wie du dein Leben genutzt hast.«
»Halt«, rief Dauras. »Wartet!«
Seine Hände fuhren hoch. Der Kanzler kippte nach vorne. Dauras fing die Klinge zwischen den Handflächen. Die Spitze wandte sich zur Seite und riss eine Wunde in seine Haut. Mit all seiner Kraft hielt Dauras das Schwert von seinem Fleisch fern.
Dann landete Arnulfs Leib schwer auf den Dielen. Die Waffe entglitt seinen Fingern und fiel
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