Das Schwert des Sehers
noch etwas Schlimmeres.
»Ich frage mich«, klagte sie, »ob das dein Plan ist: mit mir ziellos umherzureiten, ohne Vorräte und mit allerhand Demütigungen, bis ich freiwillig aufgebe und nach Hause zurückkehre.«
Ein verlockender Gedanke, wie Dauras zugeben musste. Aber er schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Wenn Dauras der Schwertkämpfer eine Prinzessin entführt, dann zieht er das auch durch. Ich werde nicht nach einem billigen Ausweg suchen, sondern Euch genau dorthin bringen, wo ich es haben will.«
»Und was wäre das für ein Ort?«, fragte Aruda.
»Hm? Nun, erst einmal über den Fluss. Und dann …«
Ihm fiel kein Ort ein, zu dem er dann wollte. Im Norden wartete ihr enttäuschter Bräutigam mit all seinen Verwandten. Im Süden ihr Vater. Und wenn sie weiter nach Osten zogen … Dauras war nie zuvor im Osten gewesen. So viele Rittergüter und Ritterorden. So viele Traditionen, die nicht die seinen waren. Und der Weg dorthin sei nicht sicher, hieß es.
»Wenn wir auf der anderen Seite des Flusses sind, können wir noch einmal genauer darüber nachdenken«, sagte er.
»Wenn wir verfolgt werden«, wandte Aruda ein, »hättenwir da nicht lieber weiterhin nach Westen reiten sollen, anstatt uns im Kreis zu bewegen? Wir hatten einen guten Vorsprung.«
»Im Westen gibt es nichts jenseits der Grafschaft von Reinenbach, nur ödes Heideland, das sich bis zu den Bergen erstreckt. Und in das Schwarze Gebirge will ich keine Dame führen. Es hat seinen Grund, dass alle Siedler einen so großen Abstand davon halten.«
Als sie weiterritten, wurde die Landschaft fruchtbarer und war nun dichter besiedelt, und endlich entdeckte die Prinzessin den Fluss in der Ferne. Wie ein dünnes Band lag er unter dem trüben Himmel, dunkel und bleiern. Aruda dachte zuerst, es sei eine Straße, als sie Dauras aufgeregt davon erzählte, aber Dauras wusste es besser. Die Flussstraße war von hier aus noch gar nicht zu sehen.
Sie machten halt, auf einem schmalen Pfad zwischen zwei abgeernteten Feldern.
»Wo sind wir?«, fragte Aruda.
»Zwei Wegstunden nördlich von Undervilz, schätze ich.« Fast an demselben Ort, von dem sie vor sechs Tagen aufgebrochen waren. Sie hatten sich tatsächlich fast im Kreis bewegt. Dauras bemerkte, dass die Prinzessin beunruhigt umherspähte.
»Keine Sorge«, sagte Dauras. »Inzwischen werden sie überall nach uns suchen, nur nicht hier.«
Er sprach mit mehr Zuversicht, als er empfand. Er war selbst nicht überzeugt davon, dass er die Route klug gewählt hatte. Man kannte ihn hier in der Gegend. Andererseits – er war vertraut mit dieser Gegend, und das war ein Vorteil, auf den er nicht verzichten wollte.
»Seht Ihr diese bewachsene Senke dort?«, fragte er. »Kriecht da unter die Büsche. Ich werde Euch später in der Nacht abholen.«
Zwei Tage nachdem der Hofrat sie instruiert hatte, erreichte Meris das Gasthaus »Zur Silberforelle«. Sie hätte früher dort eintreffen können, aber die Flussstraße nach Norden war in so schlechtem Zustand, dass sie bei Dunkelheit nicht schnell reiten konnte. Sie fragte sich, welcher Kaiser wohl zuletzt das Geld gehabt hatte, um neue Pflastersteine legen zu lassen.
Die »Forelle« war in einem schmucken Fachwerkhaus mit zweieinhalb Geschossen untergebracht. Das Wirtshaus lag gleich an der Hauptstraße, hatte einen umfriedeten Hof, einen Stall und ein Nebengebäude, in dem es Gästezimmer gab. Das Haus sah gemütlich aus.
Meris trat durch die Tür.
Der großzügige Gastraum erinnerte an eine erstürmte und geplünderte Festung. Alle Möbel waren zerschlagen, die Theke war herausgerissen. Überall lagen die Scherben von zerbrochenem Geschirr, von Schalen, Bechern und Tonkrügen. Es stank nach Wein und saurem Bier, und bei jedem Schritt klebten Meris’ Stiefelsohlen in den eingetrockneten Lachen.
Ihr geschultes Auge entdeckte auch andere, dunklere Flecken in dem Dämmerlicht, das durch die trüben Bleiglasscheiben drang. Lachen von geronnenem Blut – sie mussten riesig gewesen sein, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wegzuwischen.
Irgendjemand hatte allerdings die Trümmer zur Seite geschoben. Brennholzgroße Reste von Bänken, Stuhlbeinen und Tischen lagen unordentlich an den Wänden, zwischen besudelten Büscheln von Stroh und noch mehr Scherben. In der freigeräumten Mitte der Schankstube saßen sechs Soldaten in der roten Uniform der kaiserlichen Legion und mit der Brosche der Adlerkompanie auf der Brust. Sie hatten sich zwei
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