Das Schwert des Sehers
etwas versäumt, wenn man es nicht wenigstens einmal versuchen würde?«
Dauras irrte durch den Garten. Er mochte den Ort nicht. Seine Sinne reichten nur wenige Schritte weit, und was sie ihm verrieten, war oft trügerisch. Er sah die Bäume und Sträucher in mehreren Schatten, nicht nur, wie sie waren, sondern wie sie sein könnten . Immer wieder wich er einem Zweig aus, der nach ihm zu tasten schien, nur um dann festzustellen, dass es eine Täuschung gewesen war, das Echo eines Zweiges in seinem Geist.
So musste sich Nebel anfühlen für die Sehenden, dachte er.
Er hatte nicht viele Orte erlebt, an denen die Atmosphäre so dicht war, dass er sie mit seinen Sinnen fast greifen konnte, und an keinem dieser Orte sollten Menschen sich aufhalten. Aber die Prinzessin liebte den Ort, sie fühlte sich hier geborgen seit ihrer Kindheit, und immerhin war es ein Dachgarten, der zum Palast gehörte. Dauras nahm also an, dass die Kleine hier in Sicherheit war.
»Prinzessin?«, rief er zaghaft. »Man erwartet Euch.«
Er hörte Stimmen vor sich und ging in die Richtung, aus der sie kamen. Er konzentrierte sich auf den Weg und auf die brüchigen Steine zu seinen Füßen.
Er kam an einen Platz mit einem Brunnen, in dem das Wasser stand. Die Prinzessin saß auf einer verwitterten Bank. Blätter tanzten neben ihr in einem Wirbel und zerstreuten sich raschelnd im herbstlichen Garten.
»Mit wem habt Ihr gesprochen?«, fragte er. Weit und breit erfasste er nichts als das Leben der Pflanzen, das in diesem Garten selbst der nahende Winter kaum zu dämpfen vermochte.
Aruda blickte auf. »Ich habe … Ach, das ist nicht wichtig. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
»So?«, erwiderte Dauras. »Ich wusste nicht, dass Ihr bis dahin unentschlossen wart. Der ganze Hof rechnet fest damit, dass Ihr gleich im Thronsaal erscheint.«
»Ach, Unsinn!«, sagte Aruda. »Nicht für die Krönung. Ich habe entschieden, was ich danach tun werde. Ich will mich nicht nur auf den Thron setzen lassen und warten, was geschieht. Ich muss wissen, wem ich bei Hofe vertrauen kann – und solange ich niemandem vertrauen kann, soll zumindest niemand über mich bestimmen.«
»Ein netter Plan«, sagte Dauras. »Aber erst einmal solltet Ihr den Thron besteigen. Ich hoffe, wir finden aus diesem Garten wieder heraus – ich weiß nicht, wer in einem Palast einen Ort derart verwildern lässt.«
Aruda lachte. »Es ist ein Garten! Ich hoffe nicht, dass Dauras der Schwertkämpfer sich vor Blumen fürchtet.«
»Ich fürchte mich nicht«, sagte Dauras. »Aber wir sollten trotzdem gehen. Die Zofen, die dieser Hofrat für Euch bestellt hat, warten schon und heulen mir die Ohren voll.«
Sie gingen zurück zu dem stillen Korridor. Dauras atmete auf, als sie den Durchgang erreichten. Er streckte die Hand aus, pflückte Aruda eine Blüte aus dem Haar und warf sie zurück durch den Eingang.
»Da hat sich etwas verfangen«, sagte er. »Das passt wohl kaum zu Eurem Krönungsgewand – und was zu diesem Garten gehört, das bleibt besser darin. Ihr werdet mit der Welt da draußen genug zu tun bekommen.«
ZWEITES BUCH
AM FALSCHEN ORT
Horome küsste das Gesicht des jungen Königs. Sie strich über die tödlichen Wunden und nahm Abschied von dem Mann, dem sie nicht mehr begegnen würde.
Du wirst sentimental, Horome, flüsterte der Dämon spöttisch in ihrem Rücken. Dieser Mann war ohnehin nicht für dich bestimmt. Zu jung, zu unerfahren, und sein Weg ist nicht der deine.
Horome richtete sich auf. Sie erkannte, dass der neue Gott, dem sie sich zugewandt hatte, sich nur über sie lustig machte. Er lachte über ihr Leid. Der Handel, an dem ihr Schicksal hing, war für ihn nichts weiter als ein Spiel, das ihm beiläufige Unterhaltung brachte.
Nun, er sollte nicht mehr lange über sie lachen können.
Sie ergriff das Schwert, das dem Griff ihres Geliebten entrissen worden war, und setzte es sich entschlossen auf die Brust. Obwohl die Klinge schwarz war wie Ruß, glänzte sie hungrig im Abendlicht.
Wirst du deine Versprechen halten?, fragte sie ihren Gott, ohne einen Blick auf ihn zu verschwenden.
Du wirst mein Geschenk erhalten, antwortete er. Alles, was ich jemals zugesagt habe. Und bis zum Ende aller Tage soll eine Stadt deinen Namen tragen.
Aus der Legende von Elumer und Horome
PROLOG – AUF DER ALTEN HEERSTRASSE NACH ESGARTH
R itter Lacan, Herr!«
Lacan von Galdingen schrak hoch, als die Finger ihn an der Schulter berührten. Er griff nach dem
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