Das Schwert des Sehers
Dauras hob die Linke. Sein Handschuh war so prall gespannt wie eine aufgeblasene Schweinsblase. »Ich konnte nicht zulassen, dass irgendwelche Lumpen mich anschießen und dann damit prahlen, sie hätten mich in die Flucht geschlagen. «
Es versprach ein klarer und warmer Tag zu werden, ein weiterer goldener Herbsttag. Meris konnte es kaum glauben. Die Kälte der letzten Nacht saß ihr noch in den Knochen und ließ alles grau und schwer erscheinen. Sie wühlte in den Satteltaschen der erbeuteten Pferde nach besserer Kleidung, doch in den Sachen, die sie dort fand, sah sie aus wie ein Landstreicher.
»Und meinen Siegelring habe ich auch verloren«, murmelte sie.
Aruda war vor ihr geritten und zugleich mit ihr abgesessen. Als sie Meris nun von hinten sah, schrie sie auf.
»Da! Du hast einen Blutfleck am Mantel. Du bist verletzt.«
»Nur eine Fleischwunde«, erwiderte Meris. »Sie blutet längst nicht mehr.«
»Wir sollten uns trotzdem darum kümmern«, sagte Dauras. »Wir können uns gegenseitig verbinden.«
Meris musste Dauras den Handschuh von den Fingern schneiden, und danach quoll die Hand auf wie ein Teig im Ofen. Die Handfläche war aufgeplatzt und blutverkrustet. Entsetzt schlug Aruda die Hand vor den Mund.
»Nicht so schlimm«, behauptete Dauras. »Ich würde es merken, wenn ein Knochen gebrochen wäre.«
»Du kannst froh sein, dass die Hand noch dran ist«, sagte Meris. »Vorausgesetzt, sie bleibt dran! Ich habe Männer an solchen Wunden sterben sehen.«
»Gewöhnliche Männer«, sagte Dauras. »Ich wurde gewiss nicht auf diese Welt geschickt, um an einem Kratzer zu sterben.«
Meris versorgte die Wunde und verband sie mit dem saubersten Stoff, den sie finden konnte. Sie war nicht gerade sanft, und Dauras verzog das Gesicht. »Aber ich werde in Zukunft nicht mehr versuchen, Bleikugeln zu fangen«, räumte er schließlich ein.
Als er selbst sich um Meris’ Schulterverletzung kümmerte, zeugten seine Bewegungen von viel Erfahrung – und das, obwohl seine Linke nicht zu gebrauchen war. Zum ersten Mal konnte Meris sich vorstellen, dass er so etwas war wie ein Priester. Was lernten die Mönche im Tempel von Sir-en-Kreigen eigentlich außer der Kampfkunst?
»Konntest du wenigstens etwas über unsere Gegner herausfinden?«, wollte Dauras wissen. »Ich meine, wo du ihnen so nah gekommen bist, dass es schon ans Ausziehen ging?«
Ihr wohlwollendes Gefühl für ihn schwand. Sie unterdrückte die Regung, sich umzudrehen und ihm eine Ohrfeige zu verpassen – immerhin hatte er gerade seine Finger auf ihrer Wunde. »Mach nur so weiter, Mönch«, sagte sie. »Aber wenn dir in der Hauptstadt ein Stein an den Kopf fliegt, dann frag nicht, wer ihn geworfen hat.«
Als Dauras mit dem Verband fertig war, sah sie ihn an. »Ich glaube«, erklärte sie zögernd, »der Graf von Edern steckt dahinter.«
»Von Edern!«, rief Aruda.
»Haben sie den Namen genannt?«, fragte Dauras. »Du klingst nicht ganz überzeugt.«
»Einer der Ritter ließ eine Andeutung fallen«, erzählte Meris. »Dass ihr Auftraggeber die Prinzessin loswerden will, damit das Geld des Reiches in seine Taschen fließt.«
»Ich habe nie gehört, dass von Edern auf der Reichskasse sitzt«, wandte Dauras ein.
»Nein«, sagte Meris. »Aber die Grafschaft Edern liegt zwischen der Hauptstadt und den Goldminen von Raghabar. Wenn kein Kaiser auf dem Thron sitzt, der dem Grafen auf die Finger schaut, dann könnte von Edern womöglich nach der Goldader des Reiches greifen. Die Grafschaft ist reich und so unabhängig, dass sie sehr wohl hinter dieser Verschwörung stecken könnte. Und mit dem Gold des Schwarzen Gebirges wäre der Graf vielleicht sogar so mächtig, dass er selbst die Hand nach der Krone ausstreckt.«
»Warum sollte er mich umbringen wollen?«, fragte Aruda tonlos. »Ich kenne diesen Mann nicht einmal!«
»Es geht nicht um Euch«, sagte Meris. »Es geht um das Amt, für das Ihr bestimmt seid.«
»Und wenn ich den Anspruch auf den Thron aufgebe?«, fragte Aruda.
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Meris. »Ihr seid die einzige Tochter des letzten Kaisers. Die einen werden Euch benutzen wollen, um den Thron an sich zu reißen. Und für die anderen seid Ihr eben deswegen eine Gefahr, solange Ihr lebt. Eurem Vater und Eurem Verlobten hättet Ihr womöglich entkommen können. Aber niemand entkommt dem, was er ist.«
Dauras pflichtete Meris bei. »Wenn es stürmisch wird, dann springt man nicht ins Wasser und versucht unterzutauchen. Es
Weitere Kostenlose Bücher