Das Schwert in Der Stille
hat einen Sohn«, unterbrach Kaede sie.
»Alle anderen Kinder von Lady Iida sind früh gestorben, sie selbst ist sehr leidend. Sie kann jederzeit sterben.«
Mit anderen Worten, er ermordet sie womöglich, dachte Kaede, wagte es aber nicht zu sagen.
»Jedenfalls«, fuhr Shizuka fort, »wird Lady Maruyama Iida nie heiraten, heißt es, und sie wird es auch ihrer Tochter nicht erlauben.«
»Sie entscheidet selbst, wen sie heiraten wird? Dann muss sie eine mächtige Frau sein.«
»Maruyama ist die letzte der großen Domänen, die in der weiblichen Linie vererbt werden«, erklärte Shizuka. »Dadurch hat Lady Maruyama mehr Macht als andere Frauen. Und dann hat sie noch Kräfte, die fast magisch erscheinen. Sie verzaubert die Menschen, um ihren Willen durchzusetzen.«
»Glaubst du so etwas?«
»Wie soll man sonst ihr Überleben erklären? Die Familie ihres verstorbenen Mannes, Lord Iida und die meisten Tohan würden sie gern umbringen, aber sie überlebt, obwohl die Tohan ihren Sohn ermordet haben und ihre Tochter festhalten.«
Kaedes Herz schmerzte vor Mitgefühl. »Warum müssen Frauen so leiden? Warum haben wir nicht die gleiche Freiheit wie Männer?«
»So ist die Welt eben«, erklärte Shizuka. »Männer sind stärker und werden durch Gefühle wie Güte oder Erbarmen nicht zurückgehalten. Frauen verlieben sich in sie, aber Männer erwidern diese Liebe nicht.«
»Ich werde mich nie verlieben«, sagte Kaede.
»Das wäre besser«, stimmte Shizuka lachend zu. Sie breitete die Betten aus und sie legten sich schlafen. Kaede dachte lange an die Lady, die mächtig war wie ein Mann, die Lady, die einen Sohn und gewissermaßen auch eine Tochter verloren hatte. Sie dachte an das Mädchen, die Geisel in Iidas Festung in Inuyama, und hatte Mitleid mit ihr.
Lady Noguchi hatte ihr Empfangszimmer im Stil des Festlands dekorieren lassen, die Türen und die Schiebefenster waren mit Berglandschaften und Kiefern bemalt. Kaede mochte die Bilder nicht, sie waren ihr zu schwerfällig, das Blattgold fand sie protzig und auffallend; nur das Bild links außen gefiel ihr. Es zeigte zwei Fasane so lebensecht, dass man meinen konnte, sie würden plötzlich wegfliegen. Ihre Augen funkelten, die Köpfe waren zur Seite geneigt. Sie hörten den Gesprächen im Zimmer mit mehr Anteilnahme zu als die meisten Frauen, die vor Lady Noguchi knieten.
Rechts neben der Hausherrin saß der Gast, Lady Maruyama. Lady Noguchi bedeutete Kaede, näher zu kommen. Kaede neigte sich zu Boden und lauschte auf die doppelzüngigen Worte, die über ihrem Kopf gewechselt wurden.
»Natürlich sind wir betrübt, Lady Kaede zu verlieren: Sie war uns wie eine eigene Tochter. Und wir zögern, Lady Maruyama zu belästigen. Wir bitten nur darum, dass Kaede Sie bis Tsuwano begleiten darf. Dort werden die Otorilords zu ihr stoßen.«
»Lady Shirakawa soll in die Otorifamilie einheiraten?« Kaede gefiel die leise, sanfte Stimme, die sie hörte. Sie hob den Kopf ein wenig, damit sie die kleinen Hände sehen konnte, die Lady Maruyama im Schoß gefaltet hatte.
»Ja, sie wird Lord Otori Shigeru heiraten«, säuselte Lady Noguchi. »Es ist eine große Ehre. Natürlich steht mein Mann Lord Iida sehr nahe, der selbst diese Verbindung wünscht.«
Kaede sah, dass die Hände sich verkrampften, bis sie blutleer schienen. Nach einer langen Pause, die fast unhöflich wirkte, sagte Lady Maruyama: »Lord Otori Shigeru? Lady Shirakawa ist in der Tat zu beglückwünschen.«
»Haben Sie ihn kennen gelernt? Ich hatte nie dieses Vergnügen.«
»Ich kenne Lord Otori sehr flüchtig«, antwortete Lady Maruyama. »Setzen Sie sich auf, Lady Shirakawa. Lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen.«
Kaede hob den Kopf.
»Sie sind so jung!«, rief die ältere Frau aus.
»Ich bin fünfzehn, Lady.«
»Nur ein wenig älter als meine Tochter.« Lady Maruyamas Stimme war jetzt dünn und matt. Kaede wagte es, in die dunklen, vollendet geformten Augen zu schauen. Die Pupillen waren groß wie nach einem Schock und das Gesicht der Lady war weißer, als jeder Puder es machen konnte. Dann schien sie sich wieder gefasst zu haben. Ein Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, doch die Augen blieben ernst.
Was habe ich ihr getan?, überlegte Kaede verwirrt. Instinktiv hatte sie sich zu ihr hingezogen gefühlt. Shizuka hatte wohl Recht gehabt. Lady Maruyama konnte jeden dazu bringen, alles für sie zu tun. Ihre Schönheit war verblasst, das stimmte, aber irgendwie trugen die schwachen Falten um Augen und Mund zum
Weitere Kostenlose Bücher