Das Schwert in Der Stille
gestoßen, fast wäre ich auf ihn getreten. Er drehte sich nach mir um und ich erkannte ihn: Es war der Reisende, der in unserem Haus in Mino übernachtet und uns vor Iidas Verfolgung gewarnt hatte. Bevor ich mich abwenden konnte, sah ich das Wiedererkennen in seinen Augen und gleich darauf das Mitleid.
Die schreiende Menge übertönend, rief er: »Tomasu!«
Ich schüttelte den Kopf und sah ihn ausdruckslos an, doch er war beharrlich. Er versuchte mich aus der Masse in einen Durchgang zu ziehen. »Tomasu, du bist es, nicht wahr, der Junge aus Mino?«
»Du irrst dich. Ich kenne keinen Tomasu.«
»Jeder dachte, du seist tot!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Ich lachte wie über einen großartigen Witz und versuchte mich wieder in die Menge zu drängen. Er packte mich am Arm, und als er den Mund öffnete, wusste ich, was er sagen würde.
»Deine Mutter ist tot. Sie haben sie umgebracht. Sie haben alle umgebracht. Du allein bist übrig! Wie bist du davongekommen?« Er versuchte mein Gesicht dicht an das seine zu ziehen. Ich konnte seinen Atem, seinen Schweiß riechen.
»Du bist betrunken, alter Mann!«, sagte ich. »Meine Mutter lebt in Hufo, es geht ihr gut nach allem, was ich höre.« Ich schob ihn weg und griff nach meinem Messer. »Ich gehöre zum Clan der Otori.« Ich lachte nicht mehr, sondern machte ein wütendes Gesicht.
Er wich zurück. »Vergeben Sie mir, Lord. Es war ein Fehler. Ich sehe jetzt, dass Sie nicht der sind, für den ich Sie gehalten habe.« Er hatte etwas getrunken, aber die Angst ernüchterte ihn schnell.
Verschiedene Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Der beherrschende war, dass ich jetzt diesen Mann töten müsste, diesen harmlosen Hausierer, der versucht hatte, meine Familie zu warnen. Ich wusste genau, wie es zu machen wäre: Ich würde ihn tiefer in den Durchgang ziehen, ihn aus dem Gleichgewicht bringen, das Messer in die Halsschlagader stechen, aufwärts schlitzen, ihn dann fallen lassen, damit er daläge wie ein Betrunkener und verblutete. Selbst wenn jemand mich sähe, würde er nicht wagen, mich festzuhalten.
Die Menge drängte an uns vorbei, ich hielt das Messer in der Hand. Der Mann fiel auf den Boden, sein Kopf lag im Schmutz und er flehte stammelnd um sein Leben.
Ich kann ihn nicht töten, dachte ich, und dann: Es ist nicht nötig, ihn zu töten. Er hat beschlossen, in mir nicht Tomasu zu sehen, und selbst wenn er Zweifel hat, wird er nie wagen, sie auszusprechen. Er ist schließlich einer der Verborgenen.
Ich trat schnell zurück und ließ mich von der Menge bis zum Tor des Schreins schieben. Dort schlüpfte ich hindurch auf den Pfad, der am Flussufer entlangführte. Hier war es dunkel, verlassen, aber ich hörte immer noch die Rufe der erregten Menge, die Gesänge der Priester und das dumpfe Läuten der Tempelglocke. Der Fluss klatschte an die Boote, die Docks, die Binsen. Ich erinnerte mich an die erste Nacht, die ich in Lord Shigerus Haus verbracht hatte. Der Fluss ist immer vor der Tür. Die Welt ist immer draußen. Und in der Welt müssen wir leben.
Die Hunde waren schläfrig und friedfertig, ihre Blicke folgten mir, als ich durchs Tor ging, doch die Wachen bemerkten mich nicht. Manchmal schlich ich mich bei solchen Gelegenheiten in den Wachraum und überraschte sie, aber in dieser Nacht war mir nicht nach Streichen zu Mute. Erbittert überlegte ich, wie träge und unaufmerksam sie waren, wie leicht es für einen anderen Angehörigen des Stamms wäre, einzudringen wie der Attentäter damals. Dann überkam mich Abscheu vor dieser Welt der Heimlichkeit, Falschheit und Intrige, in der ich mich so geschickt bewegte. Ich sehnte mich danach, wieder Tomasu zu sein und den Berg hinunter ins Haus meiner Mutter zu laufen.
Meine Augenwinkel brannten. Der Garten war voller Düfte und Geräusche des Frühlings. Im Mondlicht leuchteten die frühen Blüten in zerbrechlichem Weiß. Ihre Reinheit traf mich ins Herz. Wie konnte die Welt so schön und so grausam zugleich sein?
Lampen auf der Veranda flackerten und tropften in der warmen Brise. Kenji saß im Schatten. Er rief mir zu: »Lord Shigeru hat Ichiro gescholten, weil du verschwunden bist. Ich habe ihm gesagt: ›Du kannst einen Fuchs zähmen, aber nie wirst du ihn in einen Haushund verwandeln!‹« Er schaute mir ins Gesicht, als ich ins Licht trat. »Was ist passiert?«
»Meine Mutter ist tot.« Nur Kinder weinen. Männer und Frauen ertragen. In meinem Herzen weinte das Kind Tomasu, doch Takeos
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