Das Schwert in Der Stille
behandelte die Lady mit der lässigen Vertrautheit eines Onkels. Kaede mochte ihn.
»Ich bin gern zu Fuß gegangen, als ich in deinem Alter war«, sagte Lady Maruyama beim gemeinsamen Abendessen. »Ehrlich gesagt ziehe ich es immer noch vor, aber auch ich fürchte die Sonne.«
Sie betrachtete die glatte Haut des Mädchens. Maruyama war den ganzen Tag freundlich zu ihr gewesen, aber Kaede konnte ihren ersten Eindruck nicht vergessen: dass die ältere Frau sie nicht mochte und sich irgendwie von ihr angegriffen fühlte.
»Reiten Sie nicht?«, fragte sie. Die Männer auf ihren Pferden wirkten so kraftvoll und frei; sie hatte sie den ganzen Tag beneidet.
»Manchmal reite ich«, antwortete Lady Maruyama. »Aber wenn ich als arme, schutzlose Frau durch das Tohanland reise, erlaube ich mir, in der Sänfte getragen zu werden.«
Kaede schaute sie fragend an. »Aber es heißt doch, Lady Maruyama sei mächtig«, murmelte sie.
»Ich muss meine Macht vor Männern verstecken, sonst zögern sie nicht, mich zu vernichten.«
»Ich habe auf keinem Pferd mehr gesessen, seit ich ein Kind war«, gestand Kaede.
»Aber alle Kriegertöchter sollten reiten lernen!«, rief Lady Maruyama aus. »Haben die Noguchi das versäumt?«
»Sie haben mich nichts gelehrt«, erwiderte Kaede bitter.
»Nicht den Gebrauch von Schwert und Messer? Kein Bogenschießen?«
»Ich habe nicht gewusst, dass Frauen so etwas lernen.«
»Im Westen schon.« Ein kurzes Schweigen entstand. Kaede war ausnahmsweise hungrig und nahm sich noch etwas Reis.
»Haben die Noguchi dich gut behandelt?«, fragte die Lady.
»Nein, am Anfang nicht, überhaupt nicht.« Kaede war hin und her gerissen zwischen der gewohnt vorsichtigen Antwort auf jede Befragung und dem starken Wunsch, sich dieser Frau anzuvertrauen, die derselben Klasse wie sie angehörte und ihresgleichen war. Sie saßen allein im Zimmer, abgesehen von Shizuka und Lady Maruyamas Kammerdienerin Sachie, die sich so still verhielten, dass sich Kaede ihrer kaum bewusst war. »Nach dem Zwischenfall mit dem Wachtposten konnte ich ins Wohnhaus übersiedeln.«
»Und davor?«
»Ich habe bei den Dienstboten im Schloss gewohnt.«
»Wie schändlich.« Auch Lady Maruyamas Ton war jetzt bitter. »Wie konnten die Noguchi das wagen? Wenn du eine Shirakawa bist…« Sie schaute zu Boden und sagte: »Ich habe Angst um meine eigene Tochter, die als Geisel bei Lord Iida ist.«
»Es war nicht so schlimm, als ich ein Kind war«, sagte Kaede. »Die Dienstboten hatten Mitleid mit mir. Aber als der Frühling kam und ich weder Kind noch Frau war, beschützte mich niemand. Bis ein Mann sterben musste…«
Zu ihrer Überraschung brach ihre Stimme. Ein plötzlicher Gefühlsansturm füllte ihre Augen mit Tränen. Die Erinnerung stürmte auf sie ein: die Hände des Mannes, sein hart angeschwollenes Geschlecht, das sich an sie drückte, das Messer in ihrer Hand, das Blut, sein Tod vor ihren Augen.
»Verzeihung«, flüsterte sie.
Lady Maruyama griff über den Abstand zwischen ihnen und nahm ihre Hand. »Armes Kind.« Sie streichelte Kaedes Finger. »All die armen Kinder, all die armen Töchter. Wenn ich euch doch alle befreien könnte.«
Kaede hatte nur den Wunsch, sich auszuweinen. Mühsam beherrschte sie sich wieder. »Danach holten sie mich ins Wohnhaus. Ich bekam meine eigene Dienerin, zuerst Junko, dann Shizuka. Dort war das Leben viel besser. Ich sollte mit einem alten Mann verheiratet werden. Er starb und ich war froh. Aber dann entstand unter den Leuten das Gerücht, mich zu kennen, mich zu begehren würde den Tod bringen.«
Sie hörte, wie die andere Frau erschrocken Atem holte. Einen Augenblick lang schwiegen sie.
»Ich will nicht am Tod eines Mannes schuld sein«, sagte Kaede leise. »Ich fürchte die Heirat. Ich will nicht, dass Lord Otori meinetwegen stirbt.«
Als Lady Maruyama antwortete, klang ihre Stimme schwach. »Du darfst so etwas nicht sagen, auch nicht denken.«
Kaede schaute sie an. Ihr Gesicht, weiß im Lampenlicht, schien plötzlich voller Befürchtungen.
»Ich bin sehr müde«, fuhr die Lady fort. »Verzeih mir, wenn ich heute Abend nicht länger mit dir rede. Wir verbringen schließlich noch viele Tage zusammen auf der Straße.« Sie rief nach Sachie. Die Tabletts wurden entfernt und die Betten ausgebreitet.
Shizuka begleitete Kaede zum Abort und wusch ihr die Hände, als sie dort fertig war.
»Was habe ich gesagt, was sie verletzt haben könnte?«, flüsterte Kaede. »Ich verstehe sie nicht. Einmal
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