Das Schwert in Der Stille
die Augen offen zu halten, während er uns die Lehren des Kung Tzu und die Geschichte der acht Inseln beizubringen versuchte. Nach der Sommersonnenwende und dem Fest des Webersterns begannen die Tage der großen Hitze. Die schweren Regenfälle waren vorüber, aber es blieb sehr feucht und heftige Stürme drohten. Die Bauern prophezeiten düster eine schlimmere Taifunzeit als üblich.
Mein Unterricht bei Kenji wurde ebenfalls fortgesetzt, aber nachts. Er blieb der Clanhalle fern und warnte mich, meine Stammeskünste zu zeigen. »Die Krieger halten sie für Hexerei. Sie würden dich deshalb verachten.«
In vielen Nächten gingen wir aus und ich lernte, mich unsichtbar durch die schlafende Stadt zu bewegen. Wir hatten eine sonderbare Beziehung. Bei Tageslicht traute ich ihm überhaupt nicht. Ich war von den Otori adoptiert, mein Herz gehörte ihnen. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass ich ein Außenseiter, ja ein Ungeheuer war. Doch nachts war das anders. Kenji hatte unvergleichliche Fähigkeiten. Er wollte sie mit mir teilen, und ich war versessen darauf, sie zu lernen - teils um ihrer selbst willen, weil sie ein angeborenes dunkles Verlangen erfüllten, und teils weil mir klar war, wie viel ich lernen musste, wenn ich jemals das erreichen wollte, was Lord Shigeru sich von mir erhoffte. Obwohl er noch nichts darüber zu mir gesagt hatte, konnte ich mir nur so erklären, dass er mich aus Mino gerettet hatte. Ich war der Sohn eines Attentäters, ein Angehöriger des Stamms, jetzt sein Adoptivsohn. Welchen anderen Zweck konnte das haben, als Iida zu töten?
Die meisten Jungen akzeptierten mich dank Shigeru, und mir wurde klar, welch hohes Ansehen er bei ihnen und ihren Vätern genoss. Doch die Söhne von Masahiro und Shoichi machten mir das Leben schwer, besonders Masahiros ältester Sohn, Yoshitomi. Allmählich hasste ich die beiden so sehr wie ihre Väter und verachtete sie auch wegen ihrer blinden Arroganz. Wir kämpften häufig mit Stangen. Ich wusste, dass sie mir gegenüber mörderische Absichten hatten. Einmal hätte Yoshitomi mich getötet, wenn ich ihn nicht einen Augenblick lang durch mein zweites Ich abgelenkt hätte. Das verzieh er mir nie, und oft flüsterte er mir Beleidigungen zu. Hexer. Schwindler. Ich hatte mehr Angst davor, ihn in Notwehr oder unabsichtlich zu töten, als davor, von ihm getötet zu werden. Zweifellos verbesserte das meine Fechtkünste, aber ich war erleichtert, als unsere Abreise bevorstand und kein Blut vergossen worden war.
Die heißesten Tage des Sommers waren keine gute Reisezeit, doch wir mussten in Inuyama sein, bevor das Totenfest begann. Wir nahmen nicht die direkte Hauptstraße durch Yamagata, sondern ritten südlich nach Tsuwano, jetzt der Grenzstadt des Otorilehens auf der Straße nach Westen, wo wir die Brautgesellschaft treffen würden und die Verlobung stattfinden sollte. Von dort wollten wir ins Tohangebiet ziehen und bei Yamagata auf die Poststraße stoßen.
Unsere Reise nach Tsuwano verlief ohne Zwischenfälle und war angenehm trotz der Hitze. Ich war von Ichiros Lektionen und dem Druck des Trainings befreit. Mit Shigeru und Kenji durch das Land zu reisen erlebte ich wie ein Fest; einige Tage lang schienen wir alle unsere Befürchtungen über das Bevorstehende zur Seite zu schieben. Der Regen blieb aus, obwohl die ganze Nacht Blitze um die Bergketten schossen und die Wolken indigoblau färbten. Das volle Sommerlaub der Wälder umgab uns wie ein grünes Meer.
Um die Mittagszeit ritten wir in Tsuwano ein, nachdem wir bei Sonnenaufgang für die letzte Etappe aufgestanden waren. Ich bedauerte die Ankunft, weil sie das Ende der unschuldigen Freuden auf unserer heiteren Reise bedeutete. Ich hätte mir nicht vorstellen können, was an ihre Stelle treten könnte. Tsuwano sang von Wasser, Kanäle voll fetter goldener und roter Karpfen säumten die Straßen. Wir waren nicht weit von der Herberge, da hörte ich plötzlich über das Wasser und die Geräusche der betriebsamen Stadt deutlich meinen Namen; eine Frau hatte ihn ausgesprochen. Die Stimme kam aus einem langen, niedrigen Gebäude mit weißen Wänden und vergitterten Fenstern, einer Art Kampfhalle. Ich wusste, dass zwei Frauen darin waren, doch ich konnte sie nicht sehen, und ich überlegte kurz, warum sie sich hier befanden und warum eine von ihnen meinen Namen genannt haben könnte.
Als wir zur Herberge kamen, hörte ich dieselbe Stimme im Hof. Mir wurde klar, dass sie Lady Shiraka - was Kammerdienerin
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