Das Schwert in Der Stille
vorzieht.«
»Du bist in den Tod verliebt wie deine ganze Klasse«, sagte Kenji so zornig, wie ich ihn noch nie gehört hatte.
»Ich fürchte den Tod nicht«, entgegnete Shigeru. »Aber dass ich in ihn verliebt wäre, stimmt nicht. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, ich habe bewiesen, wie sehr ich das Leben liebe. Doch es ist besser zu sterben, als mit Schande zu leben, und das ist der Punkt, an dem ich jetzt stehe.«
Ich hörte Schritte näher kommen. Wie ein Hund drehte ich den Kopf und beide Männer schwiegen. Jemand klopfte an die Tür und schob sie auf. Sachie kniete im Korridor. Shigeru stand sofort auf und ging zu ihr. Sie flüsterte etwas und huschte davon. Er sagte zu uns: »Lady Maruyama wünscht den morgigen Reiseablauf zu besprechen. Ich werde eine Weile in ihrem Zimmer sein.«
Kenji schwieg und verbeugte sich leicht.
»Es könnte unsere letzte gemeinsame Zeit sein«, sagte Shigeru leise, ging in den Gang und schob die Tür hinter sich zu.
»Ich hätte zuerst bei dir sein sollen, Takeo«, murrte Kenji. »Dann wärst du nie ein Lord geworden, nie durch Treuebande an Shigeru gebunden. Du wärst durch und durch ein Stammesmitglied. Du würdest nicht zweimal darüber nachdenken, ob du mit mir heute Nacht weggehen willst.«
»Wenn Lord Otori nicht zuerst bei mir gewesen wäre, dann wäre ich tot«, entgegnete ich heftig. »Wo war denn der Stamm, als die Tohan meine Angehörigen ermordeten und unser Haus anzündeten? Er hat mir damals das Leben gerettet. Deshalb kann ich ihn nicht verlassen. Nie werde ich es tun. Frag mich nie wieder!«
Kenjis Augen wurden trüb. »Lord Takeo«, sagte er ironisch.
Die Mädchen kamen, um die Betten auszubreiten, und wir sprachen nicht mehr miteinander.
Am folgenden Morgen waren die Straßen, die aus Tsuwano hinausführten, voller Menschen. Viele Reisende nutzten das bessere Wetter, um ihre Fahrt fortzusetzen. Der Himmel war klar und von tiefem Blau, die Sonne zog Feuchtigkeit aus der Erde, bis es dampfte. Die Steinbrücke über den angeschwollenen Fluss war unbeschädigt, doch das heftig strömende Wasser schleuderte Zweige, Holzbretter, tote Tiere und vielleicht auch andere Leichen an die Ufer. Als ich flüchtig an meine erste Brückenüberquerung in Hagi dachte, sah ich einen ertrunkenen Reiher im Wasser treiben; sein grauweißes Gefieder war verklebt, all seine Anmut gebrochen und zerstört. Der Anblick ließ mich frösteln. Ich hielt ihn für ein schreckliches Omen.
Die Pferde waren ausgeruht und trabten munter ihres Weges. Wenn Shigeru weniger munter war, wenn er meine schlimmen Ahnungen teilte, dann zeigte er es nicht. Sein Gesicht war ruhig, seine Augen glänzten. Er schien vor Energie und Lebenskraft zu glühen. Mein Herz verkrampfte sich, wenn ich ihn ansah - ich spürte, dass sein Leben und seine Zukunft in meinen Attentäterhänden lagen. Ich betrachtete meine Hände, die auf dem hellgrauen Hals und der schwarzen Mähne Rakus lagen, und fragte mich, ob sie mich im Stich lassen würden.
Kaede sah ich nur kurz, als sie vor der Herberge in die Sänfte stieg. Sie schaute mich nicht an. Lady Maruyama nahm unsere Anwesenheit mit einer leichten Verbeugung zur Kenntnis, sagte aber nichts. Ihr Gesicht war blass, sie hatte dunkle Augenringe, doch sie wirkte gelassen und ruhig.
Es war eine langsame, mühselige Reise. Die Berge ringsum hatten Tsuwano vor dem schlimmsten Unwetter beschützt, aber als wir ins Tal hinunterritten, erkannten wir das ganze Ausmaß des Schadens. Häuser und Brücken waren weggeschwemmt, Bäume entwurzelt, Felder überflutet. Die Dorfbewohner beobachteten uns verdrossen oder mit offenem Zorn, während wir mitten durch ihr Elend ritten und es vergrößerten, indem wir ihnen befahlen, Heu für unsere Pferde herbeizuschaffen und uns mit ihren Booten über die angeschwollenen Flüsse zu bringen. Wir hatten uns um Tage verspätet und mussten uns beeilen, egal zu welchem Preis.
Wir brauchten drei Tage, bis wir die Grenze des Lehens erreichten, doppelt so lange wie vorgesehen. Eine Begleitmannschaft erwartete uns hier: einer von Iidas wichtigsten Gefolgsleuten, Abe, mit einer Gruppe von dreißig Tohanmännern, die schon zahlenmäßig den zwanzig Otori bei Lord Shigeru überlegen waren. Sugita und die anderen Maruyamamänner waren nach unserem Treffen in Tsuwano in ihre eigene Domäne zurückgekehrt.
Abe und seine Männer hatten eine Woche lang gewartet, jetzt waren sie ungeduldig und gereizt. Sie wollten nicht noch Zeit verlieren, die der Besuch des
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