Das Schwert in Der Stille
wütender. »Am Abend meiner Adoption haben Sie gesagt, Sie würden Lord Shigeru nie betrügen. Erinnern Sie sich?«
Kenji seufzte. »Damals sprachen wir beide von widersprüchlichen Verpflichtungen. Shigeru weiß, dass ich zuerst dem Stamm diene. Ich habe ihm damals und dann immer wieder gesagt, dass der Stamm den vorrangigen Anspruch auf dich hat und er ihn früher oder später geltend machen werde.«
»Warum jetzt?«, fragte ich bitter. »Sie hätten mich noch eine Nacht in Ruhe lassen können.«
»Vielleicht hätte ich persönlich dir diese Chance gegeben. Aber seit dem Vorfall in Yamagata habe ich die Dinge nicht mehr im Griff. Jedenfalls wärst du dann jetzt tot und niemandem mehr nützlich.«
»Zuerst hätte ich Iida töten können«, murmelte ich.
»Dieser Ausgang wurde erwogen und verworfen, weil er nicht im Interesse des Stamms wäre.«
»Wahrscheinlich arbeiten die meisten des Stamms für ihn?«
»Wir arbeiten für den, der uns am besten bezahlt. Wir sind für eine stabile Gesellschaft. Offener Krieg erschwert es, die Dinge zu steuern. Iidas Herrschaft ist streng, aber stabil. Sie kommt uns gelegen.«
»Dann haben Sie Shigeru die ganze Zeit getäuscht?«
»Wie er mich zweifellos oft getäuscht hat.« Kenji schwieg mindestens eine Minute, dann fuhr er fort: »Shigeru war von Anfang an verloren. Zu viele Mächtige wollen ihn loswerden. Er hat gut gespielt, um bis jetzt zu überleben.«
Ich schauderte. »Er darf nicht sterben«, flüsterte ich.
»Iida wird bestimmt irgendeinen Vorwand finden, ihn zu töten«, sagte Kenji sanft. »Er ist viel zu gefährlich geworden, als dass man ihm erlauben würde zu leben. Abgesehen davon, dass er Iida persönlich beleidigt hat - das Verhältnis mit Lady Maruyama, deine Adoption -, haben die Vorfälle in Yamagata die Tohan sehr erschreckt.« Das Licht flackerte und rauchte. Kenji fuhr leise fort: »Die Schwierigkeit mit Shigeru ist, dass die Menschen ihn lieben.«
»Wir können ihn nicht im Stich lassen! Ich will zu ihm zurück.«
»Es ist nicht meine Entscheidung«, entgegnete Kenji. »Selbst wenn es so wäre, könnte ich es jetzt nicht zulassen. Iida weiß, dass du von den Verborgenen kommst. Er würde dich Ando übergeben, wie er es versprochen hat. Shigeru wird zweifellos den Tod eines Kriegers sterben, schnell, ehrenhaft. Du würdest gefoltert. Du weißt, was sie machen.«
Ich schwieg. Ich hatte Kopfschmerzen, und ein unerträgliches Gefühl des Versagens übermannte mich. Alles in mir war wie ein Speer auf ein Ziel gerichtet gewesen. Jetzt war die Hand, die mich gehalten hatte, weggenommen worden, und ich war nutzlos zu Boden gefallen.
»Gib auf, Takeo.« Kenji hatte mich unverwandt angeschaut. »Es ist vorbei.«
Ich nickte langsam. Ich konnte geradeso gut tun, als würde ich zustimmen. »Ich bin entsetzlich durstig.«
»Ich werde dir Tee machen. Er wird dir beim Einschlafen helfen. Willst du etwas zu essen?«
»Nein. Können Sie mich losbinden?«
»Nicht heute Nacht.«
Darüber dachte ich nach, während ich in und aus dem Schlaf glitt und versuchte, eine bequeme Stellung mit gefesselten Händen und Füßen zu finden. Es musste bedeuten, dass Kenji glaubte, ich würde fliehen können, sobald ich losgebunden wäre, und wenn mein Lehrer das für möglich hielt, stimmte es vermutlich. Das war mein einziger tröstlicher Gedanke, doch er beruhigte mich nicht lange.
Gegen Morgen fing es an zu regnen. Ich horchte, wie sich die Rinnsteine füllten und die Traufen tropften. Die Hähne begannen zu krähen und die Stadt wachte auf. Ich hörte, wie sich die Dienstboten im Haus regten, roch Rauch, als die Feuer in der Küche angezündet wurden. Ich vernahm Stimmen und Schritte, zählte sie, stellte mir den Grundriss des Hauses vor, seine Lage in der Straße, sein Gegenüber. Aus den Gerüchen und Geräuschen bei Arbeitsbeginn schloss ich, dass ich in einer Brauerei versteckt war, in einem der großen Handelshäuser am Rand der Stadt. Das Zimmer, in dem ich lag, hatte keine Fenster. Es war so eng wie ein Aalbett und blieb noch lange nach Sonnenaufgang dunkel.
Die Hochzeit sollte übermorgen sein. Würde Shigeru bis dahin überleben? Und wenn er zuvor ermordet wurde, was geschah dann mit Kaede? Meine Gedanken quälten mich. Wie würde Shigeru die beiden nächsten Tage verbringen? Was machte er jetzt? Dachte er an mich? Die Vorstellung, dass er glauben könnte, ich sei aus freiem Willen davongelaufen, war mir eine Qual. Und was mochten die Otorimänner glauben?
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