Das Schwert - Thriller
Nicht sie würde die Schuld an dieser Tat tragen, versuchte sie sich zu beruhigen, sondern jene, die ihre Kinder bedroht und sie zu dieser Mission gezwungen hatten.
Wenn sie sich schuldig fühlte, dann wegen ihrer kurzen Affäre mit ’Asis Daraghma, Führer der Al-Aksa-Brigaden, der sie so weit gebracht hatte, dass ihr kein anderer Ausweg mehr blieb als dieser.
Vor sechs Monaten war ihr Bruder den Märtyrertod gestorben, im Kampf für die Brigaden, den bewaffneten Arm der Fatah. ’Asis kam mehrere Male ins Haus, um sein Beileid auszudrücken, und bei diesen Besuchen galt ihr seine besondere Aufmerksamkeit. Sie betrachtete sich als eine emanzipierte Frau, sie war niemals allein mit ihm im Zimmer. Seine offensichtliche Bewunderung schmeichelte ihr. Einen Monat später wurde ihr Mann, Abd el Sami, wieder einmal wegen Drogenhandels verhaftet. Zur Zeit saß er im Aialon Gefängnis in Ramalla seine Strafe ab.
’Asis Werben wurde unverhohlener. Er war ein mächtiger Mann, und bald kam er nachts zu ihr. Niemand erhob Einwände. Ihre Mutter hatte gewollt, dass sie, während ihr Mann abwesend war, ins Elternhaus zurückkehrte, doch Samiha bestand darauf, es sei ihre Pflicht, im Haus ihres Ehemanns auszuharren und dafür zu sorgen, dass ein sauberes und gemütliches Heim ihn empfing, wenn er aus dem Gefängnis wiederkam, obwohl er der gemeinste Bastard war, den man sich vorstellen konnte. Am dritten Taghatte ’Asis sie mit vielen schönen Worten dazu gebracht, mit ihm ins Bett zu gehen, und bald darauf war sie ihm so gut wie hörig.
Jedes Mal, wenn sie sich liebten, quälten sie die Scham und das schlechte Gewissen, und die Angst vor den Folgen, sollte ihr Verhältnis entdeckt werden. Doch immer, wenn er sie küsste oder ihre Brüste streichelte oder mit den Fingerspitzen sanft zwischen ihren Schenkeln hindurchstrich, schmolz sie dahin, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie vor Lust laut aufgeschrien. Er sagte ihr, es wäre des Propheten Wille, dass ein Mann seinem Weibe Befriedigung schenken solle, und wenn sie ihn daran erinnerte, dass sie nicht seine Ehefrau war, dass vielmehr seine Ehefrau einige Straßen weit entfernt wohnte, lächelte er nur und küsste sie wieder.
Dann, vor zwei Monaten, hatte ihre Blutung nicht pünktlich eingesetzt. Als sie auch ein zweites Mal ausblieb, wusste sie, sie war schwanger, obgleich sie nicht wagte, zu einem Arzt zu gehen, um sich Gewissheit zu verschaffen.
Sie erzählte es ihm, und er wurde zornig und sagte, er wolle nichts mehr mit ihr zu schaffen haben, und auch der Bankert, den sie empfangen hatte, ginge ihn nichts an. Da wusste sie, sie war schon so gut wie tot. Früher oder später würde man einen ihrer Brüder oder Vettern oder Schwager schicken, um sie zu töten, weil sie Schande über zwei Familien gebracht hatte. Sie nannten es »Ehrenmord«, aber sie töteten nie einen Mann, nicht einmal einen Vergewaltiger, und sie fragte sich, was daran wohl ehrenhaft sein mochte.
Zu guter Letzt kam er und bot ihr einen Ausweg aus ihrem Dilemma: den Märtyrertod. Hasste sie nicht die Zionisten? Wollte sie nicht den Flecken von der Ehre ihres Mannes tilgen und sich von der Schande reinwaschen, die sie über Mutter und Schwestern gebracht hatte und überdas Andenken ihres verstorbenen Vaters? Eigentlich hasste sie niemanden, aber sie hatte genickt.
Und dann hatte sie eine Fehlgeburt. Sie flehte ’Asis an, sie von ihrem Versprechen zu entbinden, doch er sagte, das Gerücht von ihrem schamlosen Verhalten wäre bereits an viele Ohren gedrungen und ihr Tod sei so oder so beschlossene Sache.
Es klopfte an die Tür, einmal, zweimal, dreimal. Sie stand auf und öffnete.
Man hatte ihren Vetter Marwan ausgewählt. Er stand ihr gegenüber, doch er lächelte nicht wie früher.
»Friede sei mit dir«, sagte er. Sonst nichts. Und auch dieser Gruß war nur eine Floskel.
Ohne um Erlaubnis zu fragen, trat er ins Zimmer. Er hatte eine große Tasche bei sich. Sie wusste, was sich darin befand, und beinahe wären ihr die Knie weich geworden. Sie atmete tief ein und versuchte zu lächeln. Das Märtyrerlächeln wurde es genannt. Sie musste es aufsetzen, wenn sie den Kontrollposten an der Grenzbefestigung erreichte, das leuchtend gelbe Tor in dem Gitterzaun, durch das sie aus dem Westjordanland nach Israel hinübergehen würde. Als Kind hatte sie im dunklen Kinosaal gesessen und zugeschaut, wie Judy Garland die gelbe Ziegelsteinstraße entlangwanderte. Nun war auch sie auf dem Weg zu dem großen
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