Das Schwert - Thriller
Verlust war mehr, als ihre alten Herzen ertragen konnten. Jack hattesich mit hohen Mauern gegen seine Umwelt abgeschottet, einsam in seinem Schmerz, aber außerhalb der Mauern wartete eine noch größere Einsamkeit auf ihn, und er wusste, damit konnte er nicht leben.
Während seine Eltern von London aus die Heimreise nach Norwich antraten, stieg Jack in den Zug nach Schottland, hoch hinauf in den Norden, nach Inverness. Von dort ging es mit dem Bus weiter Richtung Süden in die Monadhliath Mountains, wo er ein Cottage am Ufer von Loch Killin mietete.
Weiter reichten seine Pläne nicht, das war alles, was er wollte: sich, vom Rest der Menschheit isoliert, seinem Kummer hingeben und dabei auf das schwarze Wasser des Sees starren. Loch Killin war mehr als tief genug, um darin zu ertrinken, und an manchen Tagen stand er in der Tür und dachte über diesen Ausweg nach, doch er wusste, er suchte nicht den Tod, sondern Erlösung von seinem Schmerz. In den Nächten quälte ihn der Mond.
Inzwischen war es Winter geworden, Schnee lag hoch auf den Grampians und den benachbarten Höhen. Er hatte ausreichend Lebensmittel und Brennstoff vorrätig, um bis zum Frühjahr auszukommen, desungeachtet gab es Momente, in denen eine Art Gefängniskoller ihn überfiel, der fast noch heftiger an den Grundfesten seines seelischen Gleichgewichts rüttelte.
Nach wenigen Wochen hatte er sämtliche im Haus befindliche Bücher gelesen und schmerzvolle Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben, das in den Schubladen zu finden war. Die CD-Sammlung war grauenhaft, Fernsehen gab es nicht. Er hörte je nach Gemütsverfassung Radio 3 oder Radio 4, aber die Musik des einen Senders berührte ihn nicht und die Wortbeiträge des anderen ließen ihn kalt. Er sehnte sich nach Stille und fühlte sich gleichzeitig von ihr gemartert.
Weihnachten fand nur auf dem Kalender statt. Keine Kinder verirrten sich zu ihm in die Ödnis, um Weihnachtslieder zu singen, niemand rief an, um ihm Truthahn und Weihnachtsgebäck zu verkaufen. In der Heiligen Nacht lag er schlaflos, und auch den Weihnachtstag verbrachte er im Bett, immer wieder geschüttelt von Weinkrämpfen, die ihn erst weit nach Mitternacht zur Ruhe kommen ließen.
Silvester kam und ging, ohne dass er das Datum bemerkt hätte oder überhaupt wusste, welches Jahr man jetzt schrieb. Von Zeit zu Zeit hörte er Nachrichten und erfuhr, dass die Kriege in Afghanistan und Irak unverändert weitergingen, ohne dass sich ein Ende abzeichnete, dass die Iraner immer noch Atomwaffen bauten und die Hamas nach wie vor Raketen auf israelische Städte abfeuerte.
Nicht lange nach Silvester, abends kurz nach 20.00 Uhr, draußen war es bereits stockfinster, klopfte es plötzlich an der Tür. Er erschrak und wollte nicht öffnen. Allerdings hatte er Licht an, deshalb konnte er schlecht so tun, als wäre er nicht da. Als es zum zweiten Mal klopfte, ging er zur Tür, ohne sie jedoch aufzumachen.
»Wer ist da?«, rief er. »Was zum Henker denken Sie sich dabei, nach Einbruch der Dunkelheit hier aufzukreuzen? Was wollen Sie?«
Die Stimme von draußen klang gedämpft.
»Jack? Sind Sie das? Ich muss mit Ihnen reden.«
»Verflucht, wer sind Sie?«
»Simon, Simon Henderson von der Botschaft in Kairo. Darf ich reinkommen? Mir frieren hier draußen die Eier ab.«
Er öffnete den Mund, um den ungebetenen Besucher zum Teufel zu schicken, dann aber dachte er daran, wie tiefbewegt Simon bei der Beerdigung gewesen war, an die teilnahmsvolle Freundlichkeit der Kollegen Emilias, und dass Simon ihm alles Organisatorische abgenommen hatte.
»Okay«, rief er. »Aber Sie können nicht über Nacht bleiben. Ich habe keinen Platz.«
»Vielen Dank.«
Jack entriegelte die primitive Holztür und ließ Simon eintreten.
Henderson trug eine voluminöse leuchtend gelbe Daunenjacke und hatte darin eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Michelinmännchen. Auf dem Kopf saßen eine Norwegermütze mit Pompons und Ohrenschützer. Seine Hände in grellroten Skihandschuhen sahen aus wie riesige Tomaten. Über seiner Schulter hing ein kleiner Rucksack. Sein Gesicht war rot, sein Schnurrbart voller Eis.
Jack hatte Mühe, die Gestalt, die in die Hütte stapfte, mit dem Mann in Einklang zu bringen, den er in Kairo gekannt hatte.
Simon ging geradwegs zum lodernden Feuer. Trotz der dicken Winterkleidung schlotterte er vor Kälte. Die schottischen Berge sind ein grimmiger Gegner, selbst für jemanden, der sich ihnen wohl vorbereitet nähert.
»Sie
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