Das Schwert - Thriller
was im Haus vor sich ging, doch nur Stille wehte ihm entgegen.
Er ging die Stufen hinauf und trat in das Zimmer oben, das von Bücherregalen gesäumte Kontor, in welchem Mussa seine Geschäfte abzuwickeln pflegte. Dort sah es aus, als hätte der Blitz eingeschlagen: umgestürzte Möbel, Glasscherben, überall verstreute Bücher und Papiere. Die Tür zu dem kleinen Hinterzimmer stand halb offen.
»Emilia?«, rief Jack laut. »Emilia, kannst du mich hören? Bist du hier irgendwo?«
Keine Antwort. Er versuchte es auf Arabisch.
»Ja Mehdi! Ain anta?«
Immer noch nichts. Sein Herz schlug wie eine Trommel. Etwas wühlte mit scharfen Krallen in seinem Bauch, das Ungeheuer aus seinen schlimmsten Träumen.
Er trat an die Tür und spähte durch die Öffnung, doch es drang zu wenig Licht aus dem vorderen Zimmer in das Halbdunkel, um etwas erkennen zu können.
Behutsam drückte er die Tür weiter auf. Er sah den Tisch, auf dem vor weniger als 24 Stunden Mehdis wunderbare Schatztruhe gestanden hatte.
Er trat über die Schwelle. Und als er langsam den Kopf drehte und das Szenario in sich aufnahm, kam es ihm vor, als sähe er das Ganze in Zeitlupe. Und er hatte das Gefühl, seine Augen hätten sich von seinem Herzen losgelöst und sein Herz von allem anderen. Er sah, ohne zu sehen, und begriff, ohne zu fühlen, begriff, ohne zu begreifen.
Emilia und Naomi lagen Seite an Seite, mit unnatürlich verrenkten Armen und Beinen, wie von einem achtlosen Liebhaber hingeworfen. Darsch hatte sich geirrt, da war nur ein Mädchen, nur Naomi. Emilia lag auf dem Rücken, das Gesicht der Decke zugewandt, die Augen weit offen; Naomi bäuchlings neben ihr, mit ausgestreckten Armen, wie ein kleines, weibliches Kruzifix. Ein Stück daneben lag Mehdi. Allen dreien hatte man die Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen – wer konnte sagen, in welcher Reihenfolge –, und um ihre Köpfe breiteten sich die Lachen geronnenen Blutes wie große, fast schwarze Blüten. Emilias Haut war im Tod nahezu alabastern, und ihre Blässe stach von dem persischen Teppich unter ihr ab wie ein Bouquet weißer Lilien von einem Bett purpurner Rosen. Naomi hatte irgendwann ihren Rucksack mit den Schulsachen fallen lassen, Bücher und Hefte schwammen in Blut, und ihr Name auf der Lasche war zugedeckt von der zähen roten Flüssigkeit.
»Jack? Wo bist du? Bist du hier drin?«
Er schaute sich nach dem Sprecher um. Sein Körper war hier, sein Verstand woanders, am anderen Ende des Universums.
»Simon?« Ein noch der Realität verhafteter Teil von ihm erkannte den Mann im Türrahmen. Er wusste nicht, weshalb Simon langsam, vorsichtig und mit gezogener Pistole auf ihn zukam.
»Sie sind hier, Simon«, sagte er. »Tu ihnen nicht weh. Tu ihnen nicht weh, Simon.«
Und plötzlich begann er zu schreien, und in ihm wurde es dunkel. So führten sie ihn weg, inzwischen stumm geworden, wie jemand, der niemals mehr ein Wort sprechen wird. Dann gingen sie wieder hinein. Nicht die Kairoer Polizei. Nicht die ägyptischen Sicherheitskräfte. Vielmehr Männer und Frauen der britischen Botschaft, gekommen, um eine der Ihren fortzutragen. Und einen Mörder zu finden, bevor er wieder mordete.
Zweiter Teil
13
Schottische Zuflucht
Bailebeag Cottage
Loch Killin
Schottland
Samstag, 2. Januar
Vier Monate fast waren vergangen wie Phantome, Gespenster einer leblos in die Welt geborenen Zukunft. Simon Henderson hatte sich um alles gekümmert. Die Toten waren nach England überführt und unter einer alten Eiche in Durham, Emilias Heimatort, zur letzten Ruhe gebettet worden. Die Trauer hatte Jack aller Tatkraft beraubt. Bei der Identifizierung im Leichenschauhaus in Kairo hatte er sich von Emilia verabschiedet. Simon Henderson hatte ihn gebeten, die Identifizierung Naomis ihm zu überlassen. Er, als ihr Vater, solle sich den Anblick ersparen, denn man hätte ihr Dinge angetan, ihrem Gesicht, die er nicht näher beschreiben wolle, und es sei besser, wenn Jack sich nicht von ihr verabschiedete. Seither spürte er eine große Leere in sich, die sich schleichend füllte, mit Schuld, unerträglicher Schuld.
Ungefähr eine Woche nach der Beisetzung hatte er sich von Emilias Vater und Mutter verabschiedet und war mit seinen Eltern im Zug bis London gefahren. Sie schwiegen die ganze Fahrt über, wie sie auch in den ersten Tagen der Trauer kaum Worte gefunden hatten. Seit dem Tod ihrer Enkeltochter waren beide sichtbar gealtert. Diese Art von Tod konnten sie nicht verstehen, diese Art
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