Das Schwert - Thriller
Tarik Sabri. Das ist mein Sohn, Farid. Er ist heute den ersten Tag in Ihrer Schule, und er ist ein wenig nervös. Ich möchte Sie bitten, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ihn zur Morgenandacht zu bringen und anschließend zu – nun ja, wo er dann hin muss. Er geht in die zweite Klasse.«
»Ist er bei Mr. McKenzie gewesen?«
»Vor zwei Tagen. Alles hat seine Richtigkeit.«
Die Kinder fingen an zu laufen. In wenigen Minuten begann die Andacht. Es war höchste Zeit. Die Lehrerin, Miss Evans, griff nach Farids Hand. Farid zog sie weg. Miss Evans lächelte. Er erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich werde dich nicht fressen«, sagte sie.
Sich zu dem angeblichen Mr. Sabri umwendend, sagte sie: »Die Andacht fängt gleich an. Mr. McKenzie mag keine Zuspätkommer, und wir wollen doch nicht, dass unser Farid hier gleich am ersten Tag unangenehm auffällt, nicht wahr? Vielleicht sehen wir uns noch häufiger. Wenn Farid in die zweite Klasse geht, hat er bestimmt auch Unterricht bei mir.«
Sabri schüttelte ihr die Hand, dann beugte er sich zu seinem »Sohn« hinunter.
»Gott hat dich bereits gesegnet«, raunte er. »Wenn du ins Paradies kommst, bitte ihn, mich ebenso zu segnen. Die Märtyrer warten auf dich. Gott wartet auf dich.«
Er richtete sich auf, streifte Miss Evans mit einem Lächeln und war im nächsten Moment verschwunden, während die Lehrerin mit Farid in Richtung Aula hastete.
In dem Jungen brodelten die widerstreitendsten Empfindungen. Er wollte bei seiner Mutter sein, aber wie sollte er die Schande ertragen, wenn er jetzt einen Rückzieher machte. Seit er denken konnte, priesen alle Leute, die er kannte, den Märtyrertod als das höchste und edelste Ziel menschlichen Strebens. Von Kindheit an waren seine Idole nicht Fußballspieler gewesen, sondern Märtyrer für den Glauben aus Gaza und dem Westjordanland. An den Wänden seines Schlafzimmers hingen Poster von ihnen, so, wie ein anderer Junge vielleicht sein Zimmer mit Bilder von David Beckham oder Wayne Rooney tapeziert. Er kannte ihre Namen und wusste, wie sie gestorben waren.
Der Sprengstoffgürtel um seine Taille, mit Klebeband auf der nackten Haut befestigt, scheuerte beim Laufen. Gebetsfetzen schwirrten durch das Chaos seiner Gedanken. Er schluckte die Tränen hinunter, denn Märtyrer weinen nicht. Die Lehrerin glaubte, er wäre verstört wegen der Hektik und der vielen fremden Menschen. Sie beschloss, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen.
Mit Hilfe der Gebete, die ihm seit frühester Kindheit tägliche Gewohnheit waren, und anderen, die er von al-Masri gelernt hatte, vertrieb er die Zweifel und Ängste aus seinem Kopf. Es war Zeit, alles andere auszuschließen, seine Gedanken auf die heilige Tat zu richten, die er gleich vollbringen würde.
Miss Evans bugsierte ihn durch eine Doppeltür in dieAula, einen Saal mit quadratischem Grundriss, der groß genug war, um die etwa dreihundert Schüler der Oberstufe samt dem Lehrerkollegium aufzunehmen. Der Direktor stand in seinem akademischen Talar auf der Bühne, weiße Haarbüschel sträubten sich rechts und links an seinem Kopf. Hinter ihm saß in einer Reihe die Lehrerschaft, und an der Seite schickte das Schulorchester sich an, »Abide with me« zu intonieren. Ein ganz ähnliches Szenario hätte man an jeder beliebigen britischen Privatschule finden können, nur war hier das Spektrum der Nationalitäten vielfältiger.
Miss Evans, besorgt, sie selbst könnte Mr. McKenzie als »Zuspätkommer« auffallen, erspähte einen freien Stuhl ziemlich in der Mitte des Saals, in den Reihen der Zweitklässler. Dorthin schob sie Farid mit der Versicherung, ihn nach der Andacht wieder abzuholen, und eilte dann zu der Treppe, die zum Podium hinaufführte, dabei spürte sie die ganze Zeit den Blick des Direktors auf sich ruhen.
Farid schlängelte sich durch die Stuhlreihen zu seinem Platz, verfolgt von neugierigen Augen. Sobald er sich hinsetzte, fühlte er sich besudelt. Überall um ihn herum waren Ungläubige mit blondem Haar und blassen Gesichtern neben Schülern mit dunklerer Haut, vielleicht Muslime aus unreligiösen Familien. Der Junge neben ihm sah chinesisch aus, und er wusste, die Chinesen waren Götzendiener. Ein anderer Junge trug einen indischen Turban, und einer seiner Lehrer hatte gesagt, Inder, die keine Muslime waren, beteten das Goldene Kalb an. Da waren Mädchen, die kurze Röcke anhatten, Mädchen, die älter waren als er und längst verheiratet gehörten, aber hier schamlos zwischen den Jungen saßen.
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