Das Schwert - Thriller
ihres Vaters und der Macho-Gesellschaft, in der sie aufwuchsen, aber dieses englische Kind besaß Willenskraft einer anderen Art. Ihr zartes Äußere verbarg eine innere Stärke, deren nur wenige Erwachsene sich rühmen konnten. Samiha gestand sich ein, dass sie sie ins Herz geschlossen hatte. Weil sie wusste, dass Naomis Leben an einem seidenen Faden hing, hatte diese Liebe sich bis zu einem Punkt gesteigert, an dem ihr die Vorstellung unerträglich war, dass dem Kind noch mehr Schlimmes widerfahren könnte.
Die al-Masri-Brüder stellten für Naomi die größte Gefahrdar. Keiner von beiden wollte sie hier haben, und Samiha wusste, die Kleine war nur deshalb nicht längst beseitigt worden, weil man sie als Tauschobjekt brauchte für dieses Schwert, das sich angeblich im Besitz ihres Vaters befand. Nein, korrigierte sie sich in Gedanken, es gab noch einen zweiten Grund. Einige der Schlüsselfiguren im Bunker waren anders als alle Araber, die sie je gekannt hatte. Ein paar hatten blondes Haar und blaue Augen und waren überaus angetan von Naomi. Sie nannten sie ein arisches Kind, und manchmal schenkten sie ihr Süßigkeiten. Samiha konnte sich nicht vorstellen, wo sie herkamen. Sie hatten arabische Namen und sprachen fließend Arabisch mit ägyptischem oder syrischem Akzent, aber bei einigen Gelegenheiten hatte sie belauscht, wie sie sich halblaut in deutscher Sprache unterhielten.
Sie war fast zur gleichen Zeit wie Naomi im Bunker einquartiert worden und hatte die Kleine in den ersten Tagen erlebt, unter Schock, völlig verstört und aufgelöst. Die anderen Frauen behandelten sie schroff, aber Samiha war freundlich zu ihr gewesen, bemühte sich, sie zu trösten, und mehr und mehr hatte man ihr die Verantwortung für Naomi übertragen. Wochenlang hatte sie geweint und geweint, und es dauerte lange, bis Samiha sie dazu bringen konnte, ihr anzuvertrauen, was geschehen war. Danach war sie furchtbar zornig gewesen, und über Tage hinweg musste sie aufpassen, sich nichts davon anmerken zu lassen, wenn sie mit den Leuten in ihrer Umgebung zu tun hatte, besonders nicht gegenüber Mohammed al-Masri, der ihr jedes Mal, wenn er kam, um ihre Arbeit zu überprüfen, Todesangst einflößte. Wie Naomi, durfte auch sie sich ihres Lebens nicht sicher sein. Auch sie war eine Außenseiterin; ihrer Vergangenheit wegen war sie a priori verdächtig und ein leichtes Ziel für jede noch so weit hergeholte Beschuldigung, nicht absolut loyal zu sein. Sie arbeitetehart, um alle zu überzeugen, dass sie ihre Fehler bereute. Sie verrichtete täglich alle fünf Gebete, und freitags ging sie zu al-Masris Predigten. Wäre nicht der verzweifelte Wunsch gewesen, ihre Kinder wiederzusehen, die Hoffnung, dass es ihr eines Tages gelingen könnte, sie aus Dschenin wegzuholen und ihnen anderswo ein gutes Leben aufzubauen, hätte sie dieses Dasein nicht ausgehalten.
Im Rahmen ihrer Aufgaben hatte sie Stück für Stück die Elemente des ehrgeizigen Plans entdeckt, an dessen Vollendung al-Masri arbeitete. Von diesem Bunker unter den Straßen Kairos ausgehend, reichten seine Tentakel über große Entfernungen. In der gesamten islamischen Welt waren Leute für seine Sache tätig; er pflegte Kontakte zu dem Regime im Iran, zu den Führern von Hisbollah und Hamas sowie, dessen war sie inzwischen ganz sicher, zu den Resten der al-Qaida-Führungsriege im fernen Afghanistan. Bereits jetzt kontrollierte al-Masri drei Viertel des von al-Qaida fein gesponnenen Netzwerks in Europa, Amerika und dem Mittleren Osten.
Ihre Aufgabe, für die sie durch ihren Beruf qualifiziert war, bestand in der Gründung von Unternehmen weltweit, mittels derer er seine Vorhaben unter dem Deckmantel der Respektabilität abwickeln konnte. Inzwischen existierten große Scheinfirmen in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland und den USA, dazu eine Vielzahl islamischer Wohltätigkeitseinrichtungen von Marokko bis Pakistan, die dazu dienten, erhebliche Geldsummen dorthin zu schleusen, wo sie für seine Unternehmungen gebraucht wurden. Ihr spezielles Misstrauen richtete sich auf zwei kleine Fluglinien, die al-Masri gekauft hatte, zusammen mit Flugplätzen in den Niederlanden und Deutschland. Sie glaubte zu wissen, welchem Zweck sie dienten, was transportiert wurde und wer den Warenverkehr auf dem Boden organisierte. Drogen zum Beispiel wurden aufakribisch gestaffelten Etappen und ausgeklügelten Umwegen aus ihren Herkunftsländern an die jeweiligen Bestimmungsorte
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