Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
unterbrochen von kurzen, scharfen Atemzügen. Sie war nicht weit entfernt. Ich ging auf sie zu, bemühte mich, leise aufzutreten, redete mir ein, dass es Nicolaus’ Stimme war und dass das Zittern meiner Hände von der Kälte der Nacht rührte.
Das Flüstern wurde lauter, aber die Worte blieben unverständlich. Es war ganz in meiner Nähe.
Beinahe wäre ich über Nicolaus gestolpert. Er hockte im Laub, die Knie angezogen, die Arme um sie gelegt. Sein Körper wippte vor und zurück, schnell und rhythmisch, als lausche er Trommelschlägen. Er hatte sich übergeben. Ich roch das Erbrochene.
»Nicolaus?«, fragte ich leise.
Er reagierte nicht. Die Worte, die er flüsterte, klangen fremder als alles, was ich je gehört hatte, und dazwischen zischte, krächzte und brummte er, stieß einmal sogar ein kurzes kreischendes Lachen aus, das mich zusammenzucken ließ. Seine Augen waren weit aufgerissen und weiß.
Ich wagte es nicht, mich ihm zu nähern, zog mich stattdessen zwischen die Bäume zurück, aus Angst, den Engel, der in ihn gefahren war, zu stören. Ich dankte Gott für das Wunder, das er mich erleben ließ, schloss die Augen und lauschte den fremden Worten. Es war kein Latein – ich war immer davon ausgegangen, dass Gott und die Engel die Sprache der Priester sprachen –, sondern etwas anderes, eine fremde göttliche Sprache, die des Himmels. Ich ließ sie ein in meine Seele, hoffte, dass sie mir Linderung gewähren und meine Erinnerungen beruhigen würde.
Irgendwann brach sie ab. Ich öffnete die Augen und sah, dass Nicolaus zusammengesackt war und schlief. Es war schon fast hell, aber ich weckte ihn nicht, sondern ging langsam zurück zum Lager, immer noch gefangen von dem Geheimnis, das ich erfahren hatte.
Ich schlich zum Feuer und legte mich hin, das Gesicht von den Flammen abgewandt, die Augen geöffnet, und war bemüht, die Worte nicht zu vergessen, die Sprache in meinen Gedanken festzuhalten, aber sie entzog sich mir, stieg aus meiner Erinnerung auf wie Nebel über einem Fluss in den Himmel. Vielleicht war das besser so. Die Sprache der Engel war nicht für Menschen bestimmt.
Kurz vor Sonnenaufgang hörte ich, wie sich Lukas auf der anderen Seite des Feuers erhob. Er zog die Stiefel an, die ein Schuster dem Kreuzzug geschenkt hatte, dann ging er davon. Erst lange nach Sonnenaufgang, als wir alle schon ungeduldig warteten und die Soldaten, die Peter in seinem Karren bewachten, nervös wurden, kehrte er zurück, mit Nicolaus an seiner Seite.
Konrad berührte meine Hand. »Da ist er.«
Ich sah Nicolaus ebenfalls. Er wirkte blass und erschöpft. Seine Stirn glänzte, als hätte er Fieber. Er trug ein frisches weißes Leinen hemd, durch dessen Stoff man sein dunkles Muttermal erahnen konnte. Seine Füße schlurften durch den Matsch, er konnte kaum die Beine heben. Lukas stützte ihn unauffällig am Ellenbogen, sodass man es kaum bemerkte.
Die Soldaten erhoben sich. Einer stieß seinen schlafenden Kameraden an, der erschrocken hochfuhr.
Peter hatte die Nacht stehend auf dem Karren verbracht, trotzdem wirkte er nicht so erschöpft wie Nicolaus. Jemand, wahrscheinlich einer seiner Söhne, hatte ihm ein Fell über die Schultern gelegt.
Die beiden Jungen standen ebenfalls auf, als sie Nicolaus bemerkten. Einer faltete die Hände und senkte den Kopf, während der andere dem Richter seines Vaters trotzig entgegenblickte.
Die Menge ließ Nicolaus durch. Obwohl die Fackeln, die in der Nacht den Kreis gebildet hatten, längst verloschen waren, trat niemand über diese unsichtbare Grenze. Eine seltsame Spannung lag über uns allen. Kaum jemand sagte etwas, und wenn doch, dann flüsternd und mit nervösem Blick.
Ich tastete nach Konrads Hand. Er zog sie nicht weg. Hugo hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Lippen zusammengekniffen. Ich sah ein einzelnes Barthaar an seinem Kinn.
Nicolaus blieb in der Mitte des Kreises stehen, drehte Peter den Rücken zu und stützte sich schwer auf seinen Schäferstab. Lukas trat zurück, wenn auch zögernd, so wie jemand, der den letzten Stein auf eine Mauer gelegt hat, sich aber nicht sicher war, dass sie halten wird.
»Der Engel hat in der Nacht zu mir gesprochen«, begann Nicolaus.
Vereinzelt riefen Menschen: »Halleluja!«
Nicolaus wartete, bis Stille einkehrte, dann fuhr er fort. »Er führte mich zu einem Feld, auf dem der Roggen hoch stand wie kurz vor der Erntezeit. In der Mitte des Feldes stand eine Pflanze. Sie war verkümmert und voller Käfer. Die
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