Das sechste Herz
schon.«
»Was denkst du denn?« Jo wirkte genervt. »Wann hätte ich denn mal keine ›ordentlichen‹ Fotos geliefert?«
»Sei doch nicht gleich beleidigt!« Sie wedelte mit ihrem Schal vor Jos Nase herum, und Lara dachte, dass der Freund sich das Getue auf Dauer wohl nicht gefallen lassen würde.
»Das war doch der Kracher, oder?« Patricks Wangen waren hochrot. »Jeden Tag neue Horrormeldungen! Wir werden noch zur Hochburg des Verbrechens!«
»Das ist nichts Wünschenswertes.« Christin verzog kurz den Mund, ehe sie weiterredete. »Ich habe gehört, dieser Retter soll ein Lastwagenfahrer gewesen sein. Ob man an den rankommt?«
»Wahrscheinlich versuchen das gerade fünfzig andere Journalisten.« Jo trat mit den Schuhsohlen Muster in den schmutzigen Schnee am Straßenrand. »Und diese Vanessa wird im Krankenhaus gewiss auch komplett abgeschirmt.«
»Da kannst du Gift drauf nehmen.« Christin trat von einem Fuß auf den anderen.
»Wisst ihr, welche Verletzungen sie hat?« Lara überlegte, wie es für das Mädchen gewesen sein musste, sich aus dem Kofferraum eines fahrenden Autos fallen zu lassen.
»Wohl ein gebrochenes Bein, ansonsten nur ein paar Prellungen.« Christin setzte noch ein »Hab ich läuten hören« hinzu und grinste dabei.
Wer auch immer der Entführer dieser Vanessa gewesen war, sie hatte bei alledem immenses Glück gehabt. Glück, dass sie sich nur ein Bein gebrochen hatte, dass sie nicht von einem nachfolgenden Auto überfahren worden war und dass der Lastwagenfahrer angehalten hatte, bevor der Entführer zurückgekommen war.
»Angeblich soll das, was die Kleine im Kofferraum gefunden hat, ein persönlicher Gegenstand von Laura M. gewesen sein. So eine Art Charm. Leider ist es nicht bestätigt.«
»Was ist denn ein Charm?« Jo ließ einen Handschuh fallen und bückte sich, um ihn wieder aufzuheben.
»Ein Anhänger für ein Armband oder das Handy. Es gibt sie in allen Formen, Größen und Materialien. Auf manchen stehen Buchstaben oder ganze Namen. Ich denke, so etwas muss es auch hier gewesen sein, wenn sie es dem sechsten Opfer sofort zuordnen konnten. Sicher lassen sie noch eine DNA -Analyse durchlaufen, ehe sie die Info herausgeben.«
»Was du alles weißt!«
»Das mit den Charms weiß glaube ich jede Frau.« Christin sah zu Lara, die ihr zunickte, ehe sie fortfuhr. »Für die anderen Sachen habe ich halt meine Informanten, so wie ihr auch.«
»Das heißt, dass Vanessas Entführer tatsächlich mit dem Tod von Laura M. und wahrscheinlich auch mit dem Schlachter zu tun hatte und kein bloßer Nachahmer war.« Lara schaute nach drüben, wo sich die Meute allmählich aufzulösen begann.
»Hast du je daran gezweifelt?« Christin stülpte sich die fellbesetzte Kapuze über den Kopf und machte Patrick ein Zeichen. »So, wir müssen. Tom kriegt einen Anfall, wenn er mitbekommt, dass wir hier mit dir geschwatzt haben.«
»Ich komme auch gleich.« Jo erwiderte Patricks Winken und sah den beiden kurz nach, ehe er sich wieder Lara zuwandte.
»Ich mach mich dann auch mal langsam auf den Weg in die Redaktion. Kann ich dich irgendwo absetzen?«
»Zu Hause. Ich versuche in der Zwischenzeit noch einmal, Mark zu erreichen. Treffen wir uns später?«
»Klar. Ich rufe dich nachher an, dann können wir für heute Abend etwas ausmachen. Auf ins Parkhaus.« Jo zog den Autoschlüssel aus der Tasche und ließ ihn am Finger kreisen.
44
An der Zimmerdecke befand sich ein Riss. Es konnte auch eine Spinnwebe sein. Lara drehte leise den Kopf und betrachtete Jo. Sein Gesicht war entspannt, und sie konnte in ihm etwas von dem Jungen sehen, der er einmal gewesen war. Über den Lippen waren ein paar winzige Sommersprossen, und neben dem rechten Mundwinkel hatte er beim Rasieren ein paar Stoppeln stehen lassen.
Im Gegensatz zu Marks wirkte Jos Gesicht nicht so kantig, es war weicher, die Nase nicht so lang.
Sie schloss die Augen. Da lag sie nun neben diesem netten Kerl im Bett und dachte an einen anderen. Warum meldete Mark sich nicht? Allmählich gingen ihr die Argumente aus, sein seltsames Verhalten zu erklären. Gestern Nachmittag hatte sie beschlossen, ihn in Ruhe zu lassen. Da er anscheinend nicht an sein Handy gehen wollte, konnte sie ihn ja schlecht dazu zwingen. Und heute war ihr erster Gedanke nach dem Aufwachen der an Mark Grünthal. Lara verdrehte die Augen.
Vorsichtig schob sie die Beine aus dem Bett und zuckte zusammen, als ihre Füße den kalten Boden berührten. Sie überlegte kurz, Jo zu
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