Das sechste Herz
ausdrücken, Hubert. Als Arbeitshypothese können wir das durchaus gelten lassen.«
»Das mag sein. Aber wenn man noch unerfahren ist, prägen sich solche vorschnellen Urteile ein, und dann kommt man später gar nicht mehr auf die Idee, dass es auch anders sein könnte.«
»Sei nicht so streng mit ihm. Von der Person des Täters einmal abgesehen hat Patrick recht. Es muss einen Grund für diese Abweichung vom Modus Operandi geben.«
»Ganz einfach: Wahrscheinlich hatte er oder sie es diesmal eilig und keine Zeit, das Herz erst einzufrieren. Die Kripo wird das schon herausfinden. Wir sollten uns nicht für die den Kopf zerbrechen.« Hubert war und blieb ein alter Griesgram.
»Ich finde das Ganze trotzdem spannend. Und schaurig.« Jo sah zu Patrick und zwinkerte ihm zu. »Irgendwo muss eine frische Leiche ohne Herz herumliegen, und ich wüsste zu gern, wo.«
Der Praktikant öffnete den Mund, um zu antworten, als Hubert auf seinen Bildschirm zeigte und sagte: »Da ist sie auch schon.«
»Wie meinst du das?« Patrick, der die ganze Zeit neben Jos Stuhl gestanden hatte, kam nun um den Schreibtisch herum und schaute über Huberts Schulter.
»Lies die Tickermeldung.« Huberts Zeigefinger stach in Richtung des Monitors.
Leichenfund in Eilenburg … ausgeweidete Tote am Rand der Kiesgrube Eilenburg/Sprotta aufgefunden … Opfer des Schlachters?
*
»Bis nächste Woche, Frau Gerstäcker. Schwester Annemarie wird Ihnen das Rezept ausdrucken.« Mark schloss die Tür hinter der letzten Patientin des Tages und ging zum Fenster, um ein wenig frische Luft hereinzulassen. Es war noch nicht einmal sechzehn Uhr, und schon senkte sich die Dämmerung wie ein weicher schwarzer Mantel über Berlin. Heute hatte er Zeit, liegen gebliebene Dinge zu erledigen. Anna und die Kinder würden nicht mit dem Abendbrot auf ihn warten. Gestern waren sie beim Griechen gewesen, der Mittwoch war seit Jahren ihr gemeinsamer Abend. Mark mochte griechisches Essen nicht besonders, aber da jeden Mittwoch ein anderes Familienmitglied wählen durfte, hatte es eben dieses Mal nicht seinen Geschmack getroffen. Das ließ sich verschmerzen. Was sich viel schlechter verkraften ließ, war die Tatsache, dass Franz sich zunehmend verschloss. Anna und Mark erfuhren kaum noch etwas über die Schule oder Franz’ Freunde, geschweige denn, wohin er an den Wochenenden verschwand, was auf den zahlreichen Partys geschah oder ob ihr Sohn ein Auge auf ein Mädchen geworfen hatte. Der Junge glich zunehmend einer Auster.
Ein eisiger Lufthauch ließ ihn frösteln, und er schloss das Fenster wieder. Sicherlich war Franz’ Verhalten seinem Alter zuzuschreiben – mit fast achtzehn hatte der Junge die Pubertät noch nicht überstanden, auch wenn er selbst fest davon überzeugt war, bereits erwachsen zu sein. Jetzt lächelte Mark. Er war in dem Alter nicht anders gewesen. Seine Eltern hatte er für borniert und verknöchert gehalten, ihre ständige Sorge um sein Wohlergehen war ihm auf den Geist gegangen. Etwas mehr Geduld mit der eigenen Sippschaft war angebracht.
Er rollte mit dem Bürostuhl an den Schreibtisch heran, überprüfte die Eintragungen in Birgit Gerstäckers Patientenakte und lehnte sich dann zurück, den Blick auf das übernatürlich gelbe Rapsfeld auf dem Foto neben dem Wandregal gerichtet.
Es wurde höchste Zeit, dass er sich die Geroldsen-Unterlagen vornahm. Zum einen hatte er Lara und Jo versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern, zum anderen jedoch war er inzwischen selbst von Magnus Geroldsen und seinem vermeintlichen Nachahmungstäter fasziniert.
Mark verzog den Mund. Lara und Jo. Die zwei passten gut zueinander. Zu gut. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken an die beiden loszuwerden, zog die linke obere Schreibtischschublade auf, nahm die hellblaue Mappe heraus und begann sie durchzublättern.
Agnes hatte nur Teile kopiert. Die Originalakte musste Hunderte von Seiten umfassen. Ihn interessierten jedoch vor allem die Behandlungsmethoden im Maßregelvollzug und Anzeichen dafür, dass Geroldsen Kontakt zu Mitpatienten oder zu Außenstehenden gehabt haben könnte. Dass der Mann sich jeglichen Therapieversuchen widersetzt hatte, wusste er ja bereits.
Die ersten fünf Seiten befassten sich mit Geroldsens Einlieferungsdiagnose. Mark legte die Akte ab, schloss kurz die Augen und versuchte, sich an die Zeit vor zehn Jahren zu erinnern. Jeden Tag hatte er im Gerichtssaal gesessen und den Angeklagten beobachtet, hatte seine Mimik und Gestik
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