Das sechste Herz
ließ die kalten Gebilde schmelzen, wie sie es als Kind gemacht hatte. Sie schmeckten nach nichts.
»Du sagst es.« Das Eisentor quietschte, als Jo es weiter aufstieß. Sein »Hallo? Jemand zu Hause?« hallte durch die Luft und wurde schon nach wenigen Metern von dem weißen Wirbel aufgesogen. »Da rührt sich nichts. Also lass uns reingehen.« Ein feiner Wind war aufgekommen und trieb die Flocken auf dem Weg zu kleinen Strudeln zusammen.
Lara erschauerte. »Ich komme mir vor wie in einem Horrorfilm. Gleich wird ein Monster mit blutunterlaufenen Augen hinter uns aus dem Wald treten und die Axt schwingen.«
»Komm schon. Monster gibt es nur in Filmen und Büchern. Lass uns zusehen, dass wir hier fertig werden. Es wird bald dunkel, dann ziehen die Temperaturen an, wir frieren uns den Arsch ab, und wenn es so weiterschneit, sind die Straßen glatt wie Schmierseife.« Er betrat das Grundstück, und Lara folgte ihm widerstrebend, wobei sie das Haus musterte. Das obere Stockwerk schien unbewohnt zu sein. Der Schmutz mehrerer Jahre hatte das Glas fast undurchsichtig gemacht. Im Erdgeschoss hingegen musste jemand wenigstens ab und zu für saubere Fensterscheiben gesorgt haben. Die Fensterläden waren aufgeklappt, gelbliche Gardinen verbargen den Blick ins Innere. Lediglich das Tor der Garage rechts neben dem Haus wirkte wie neu. Außen war kein Griff zu sehen, wahrscheinlich funktionierte es elektrisch. Lara wunderte sich noch über den Widerspruch, als sie Jo sagen hörte: »Kein Rauch aus dem Schornstein.« Er war vorausgeeilt und stand jetzt am Fuß der drei Stufen, die zu der hölzernen Eingangstür hinaufführten. »Hier ist auch keine Klingel.« Er hob die Hand, um zu klopfen.
Leises Brummen. Eine Hand kam ins Bild, die in einem grauen Wildlederhandschuh steckte, wie Bauarbeiter ihn zum Schutz trugen. Die Hand hielt etwas fest, das wie ein dicker heller Stock aussah. Ein Schwenk, und neben dem stockähnlichen Gebilde kam eine gelb gestrichene Maschine ins Bild, die auf einem fahrbaren Metalltisch stand. Im oberen Teil saß ein großer silberfarbener rechteckiger Trichter. Jetzt bewegte sich die Hand in Richtung des Trichters, ein Teil eines Arms, der in einer wattierten Jacke steckte, wurde sichtbar. Im Zeitlupentempo schwang der Arm den Stock zum Trichter und senkte ihn in die Luke.
Das leise Summen verwandelte sich in ein schrilles Kreischen. Rote und gelbe Fetzen flogen aus der Öffnung in alle Richtungen, fielen auf den Boden neben der Maschine und verursachten dabei ein leises Platschen. Ruckweise verschwand der Stock im Trichter, die Hand half am oberen Ende nach, während ein zweiter, ebenso behandschuhter Arm sich von links ins Bild schob. Dieser hielt eine große Plastiktüte mit einer unleserlichen Aufschrift. Der Beutel wurde gekippt, und helle Streu bröselte neben dem Rest des Stocks in den Trichter. Zeitgleich verwandelte sich das kreischende Geräusch in ein sonores Brummen.
Lara spürte, wie sie rasselnd Luft holte, während sich das Bild änderte. Zuerst wurde es unscharf, dann wechselte der Blickwinkel. Sie sah jetzt den Boden neben der Maschine, die, wie es ihr eben klar geworden war, ein Schredder für Gartenabfälle sein musste. Den grobkörnigen Untergrund bedeckte eine dunkelblaue Plastikplane, auf der ein ungeordneter Haufen von weiteren Holzteilen lag, einige davon länglich, andere kompakter. Neben der Plane stand eine kleine Werkbank, darauf lag eine Motorsäge. Der gesamte Boden war mit Hobelspänen bedeckt, auf denen sich in unregelmäßigen Abständen dunkelrote Flecken verteilten.
Das Brummen verstummte. Für einen winzigen Augenblick schärfte sich das Bild, ehe es mit einem leisen Knistern erlosch, aber dieser Moment hatte ausgereicht, um zu erkennen, um was es sich bei den »Holzstöcken« handelte. Es waren menschliche Körperteile.
Zwei Beine, ein Arm, eine Hand, ein größerer »Klumpen«, wahrscheinlich der Rumpf. Und das, was da eben in den Schredder gewandert war, war keinesfalls ein dicker Stock gewesen, sondern ein Unterarm. Jemand kicherte. Dann wurde alles schwarz.
Lara hörte sich selbst seufzen und schüttelte dann heftig den Kopf, um die abscheulichen Bilder zu vertreiben.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Jo ihre Schultern stützend umfasste und sie besorgt anblickte. Sie räusperte sich zweimal und wartete, dass die Wirklichkeit zu ihr zurückfand. Nach mehrmaligem Durchatmen fühlte sie sich in der Lage zu sprechen.
»Wir sollten da lieber nicht reingehen.« Ihre
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