Das sechste Opfer (German Edition)
früh gegangen. Er war sowieso nur sehr kurz dabei, ich habe ihn nicht lange gesehen. Dann war er wieder weg. Tut mir leid.«
Sie zuckte mit den Achseln und dachte noch einmal nach, aber mehr konnte sie mir nicht dazu sagen. Dann sah sie mich mit ihren großen Augen an und fragte: »Wurde denn seine Aktentasche gefunden?«
Ich stutzte. Von der verschwundenen Aktentasche hatte ich schon von Clara gehört, aber nichts darüber gelesen, deshalb dachte ich, Clara hätte das erfunden, um mich zu ködern. Aber es schien wahr zu sein.
»Keine Ahnung. Wieso?«
»Sie ist nirgends auffindbar. Sie war nicht in seinem Auto, seine Frau findet sie zu Hause nicht, obwohl ich mir sicher bin, dass sie an dem Tag noch da war und er sie bei sich trug. Er scheint sie nicht mitgenommen zu haben, doch hier ist sie auch nicht.«
»Vielleicht wurde er ausgeraubt unterwegs?«
»Ausgeraubt und dann in den Fluss geschoben?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. So ganz gefiel mir meine Theorie ebenfalls nicht, zumal Andreas Werner wirklich ertrunken war, das hatte der Autopsiebericht im Polizeibericht eindeutig bestätigt. Er war nicht erschlagen oder anderweitig getötet worden. Vielleicht wurde er bewusstlos gemacht, ausgeraubt und danach lebendig im Fluss versenkt? Das würde das Ertrinken erklären. Aber von anderen Verletzungen war nie die Rede, und von anderen Drogen außer Alkohol auch nicht. Doch von 1,2 Promille im Blut, laut Polizeibericht, wurde man noch nicht bewusstlos. Außer Susanne, eine Ex-Freundin aus meiner Vergangenheit, die hatte es einmal geschafft, nach drei Gläsern Wein ohnmächtig zu werden.
Und wie hätten sie es geschafft, ihn unterwegs anzuhalten und niederzuringen? Den Fotos nach zu urteilen, war Andreas Werner ein relativ großer und kräftiger Mann. Wurde eine Panne simuliert und er hatte dummerweise angehalten?
Ich wusste es nicht, und Beate Heitmann offenbar ebenfalls nicht, denn sie starrte mich noch immer fassungslos an.
»Nein, das war nur so eine Idee«, versuchte ich meine Begeisterung für die verschwundene Aktentasche zu erklären. »Wäre nur eine Erklärung, warum sie weg ist. War denn etwas Wichtiges darin?«
»Ich weiß es nicht.« Sie zog ein Gesicht, als würde sie sich hundeelend fühlen, weil sie keine Ahnung davon hatte, was ihr Chef in seiner Tasche verbarg. »Auf jeden Fall muss da der Schlüssel zu seinem Tresor drin gewesen sein. Der ist nämlich auch verschwunden und wir kriegen ihn nicht auf. Der neue Chef kommt bald und kann ihn nicht benutzen. Das wirft nicht gerade ein gutes Licht auf unsere Bank.«
Auf einmal war sie ganz sachlich und ich konnte mir besser vorstellen, warum Andreas Werner sie mit nach oben genommen hatte.
»Was ist denn in dem Tresor?«
»Das wusste natürlich nur er.«
Überflüssige Frage. Entschuldigung.
»Vermissen Sie denn etwas?«
»Nein. Noch nicht.«
Sie wurde immer einsilbiger. Mein Cappuccino war längst ausgetrunken, ihr Latte wohl ebenfalls.
»Wer wird denn der neue Chef?«
»Sie sehen sich noch die Bewerbungen an und führen Gespräche, aber ich tippe auf den Senior von der Deutschen, Dieter Vogler. Doktor Dieter Vogler.«
Das »Doktor« kam mit einer Verachtung, die mich schmunzeln ließ. Sie hatte wohl ein Faible für den einfachen Jungen, der sich hochgearbeitet hat und mochte offensichtlich keine Akademiker. Ich beschloss, die Sache ruhen zu lassen und dankte ihr, dass sie mir ihre Zeit geopfert hatte.
Dann stand ich auf und ging hinaus in den strahlenden Frühlingstag, um endlich wieder in mein ruhiges, gemütliches Stadtrandidyll zurückzukehren.
Unterwegs rief mich Franz an. Ich war gerade auf der Stadtautobahn und konnte nicht anhalten. Ich besaß noch immer kein Headset, weil ich unterwegs nie viel telefonieren musste, aber in diesem Augenblick hätte ich es gern gehabt, denn Franz klang sehr aufgeregt. Also hielt ich mein Handy ans Ohr und hoffte, nicht schalten zu müssen und vor allem keinem Polizeiwagen zu begegnen. Franz glaubte, herausgefunden zu haben, was wirklich etwas an dem Polizeibericht nicht stimmte.
»Der ist von viel zu weit oben abgezeichnet. Der Chef der Polizeidirektion hat persönlich unterschrieben, was bedeuten würde, dass er die Ermittlungen selbst geleitet hat. Das glaubst du doch selber nicht. Der kommt nur aus seinem Sessel heraus um zu pinkeln. Und vielleicht nicht mal das. Und von dem Pathologen, der die Autopsie gemacht hat, hab ich auch noch nie was gehört.«
»Das ist alles?«
Ich war enttäuscht. Ich riskierte
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