Das sechste Opfer (German Edition)
erzielt. Aber das bedeutete nicht viel. Selbst der Morgenspiegel wusste nicht alles und kannte nicht jeden.
Er öffnete wieder die Augen und starrte in die Dunkelheit. Irgendetwas nagte an ihm, doch er konnte nicht den Finger darauf legen. Wie wenn man einen Namen sucht, ihn auf der Zunge hat und versucht, ihn in Buchstaben und Worte umzusetzen, doch immer wieder entgleitet er. Es macht einen wahnsinnig.
Franz sah auf die Uhr. 3:46 Uhr.
Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen, aber auch das brachte nichts. Wieder und wieder sah er im Geist die Polizei- und Autopsieberichte durch.
Todesursache: Ertrinken.
Todesursache: massives Trauma des Brustkorbs, zerquetschte Organe und Knochen durch Einwirkung eines Fremdfahrzeugs.
Todesursache: schweres Kopftrauma durch einen Sturz aus 230 Meter Höhe.
Todesursache: Verbluten durch eine Stichverletzung im linken Rippenbereich.
Todesursache: Dreiteilung des Körpers durch Schienenfahrzeug (möglicherweise Suizid).
Todesursache: wahrscheinlich Zerfetzen durch eine Explosion. Kaum Überreste vorhanden.
Warum hatten diese Fälle nicht die normalen Forensiker in der Rechtsmedizin der Charité bearbeitet? Was war das Besondere an diesen Todesfällen? Selbstmorde gab es tagtäglich und auch Unfälle mit Fahrerflucht. Auch ein Raubmord gehörte zum täglichen Brot der hartgesottenen Gemüter in der Gerichtsmedizin. Was sollte da vertuscht werden? Und warum?
Er öffnete die Augen und stand auf.
Er ging im Dunkeln durch das kleine Schlafzimmer hinüber ins Arbeitszimmer, das direkt daneben lag. Er kannte den Weg im Schlaf, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie oft schon war er im Halbschlaf ans Telefon gegangen oder hatte sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt oder, an schlechteren Tagen, sich einen Kaffee gemacht. Nachdem er sich einmal schwer das Bein am Türrahmen verletzt hatte, weil er die Kurve zu früh genommen hatte, stand dort ein weicher Sessel, der ihn vor weiteren Verletzungen schützen sollte.
Franz ging tapsend zum Schreibtisch und machte die Schreibtischlampe an. Eine Diele knarrte unter seiner Last, ein Laut, der in der Stille der Wohnung wie ein Donnerschlag hallte. Das Licht der Lampe leuchtete grell in Franz' müde Augen, so dass er sie zusammenkniff, um sie danach blinzelnd wieder zu öffnen.
Das Arbeitszimmer war groß und relativ spärlich eingerichtet. An einer Wand stand ein Regal, wo sich Wörterbücher und Bücher über polizeilichen und medizinischen Fachjargon friedlich den Platz mit Ordnern voller Rechnungen und Kontoauszüge und dem obligatorischen Munzinger teilten. Daneben stand ein Rollcontainer mit Franz' Artikeln, zeitlich geordnet, 1998 beginnend. Am Fenster, das natürlich geschlossen war, befand sich eine Sofaliege. Das Notquartier für späte Gäste, obwohl es in letzter Zeit kaum noch benutzt wurde. Um nicht zu sagen: gar nicht mehr. Peter war der letzte Gast auf dieser Liege gewesen, und das war auch schon mehr als zwei Jahre her.
Franz setzte sich an den Schreibtisch, auf dem neben dem Duden und einem Fremdwörterbuch auch die Kopien der Akten lagen. Wieder sah er sich die Berichte an. Es war bestimmt das zwanzigste Mal, dass er in den Papieren blätterte, wenn nicht noch öfter, dachte er, doch solange er nicht wusste, was los war, würde er damit auch nicht aufhören.
Er las den Bericht über den Apotheker, der im Elbsandsteingebirge beim Klettern verunglückt war, und schüttelte den Kopf. Schweres Kopftrauma. Zerschmetterte Knochen. Schwere innere Verletzungen. Wahrscheinlich vom Felsen abgerutscht und nach unten gestürzt.
Es klang so plausibel. Aber dennoch. Irgendetwas störte ihn.
Andreas Werner. Alkoholgehalt im Blut 1,2 Promille. Zeugen bestätigten, dass er auf der Party getrunken hatte.
Würde ein Familienvater mit 1,2 Promille Alkohol im Blut noch Auto fahren? Er konnte sich doch locker ein Taxi leisten. Und wäre er so betrunken bei der Party nicht viel mehr aufgefallen? Hatte vielleicht jemand den Bericht gefälscht? Den Alkoholgehalt einfach erhöht? Das konnte er niemals beweisen.
Wieder sah Franz in die Akte des Apothekers und legte die Aussage seiner Freundin dazu. Er war immer gesichert, hatte sie gesagt. Er sei zwar ein Extrem-Sportler und ein verdammt guter Kletterer gewesen, der gerne mal was riskierte, doch er wollte sie heiraten und hatte versprochen, kein Risiko mehr einzugehen. Warum er es an diesem Tag nicht getan hatte, war ihr ein Rätsel. Tränenüberströmt hatte sie von dem neuen Seil erzähl, dass er
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