Das sechste Opfer (German Edition)
sparsam eingerichtet. Wahrscheinlich war bei dieser Miete kein Geld mehr für die Einrichtung übrig. Der typische Geruch nach Desinfektionsmittel und Chemikalien hing in der Luft. Ein verwaister Tresen befand sich auf der rechten Seite. Links lag der leere Warteraum, daneben gingen zwei Türen ab, wahrscheinlich in die Sprechzimmer.
Ich stellte mich zum Tresen und sah mich um. Diese Umgebung schüchterte mich ein. Der Geruch und das sterile Umfeld jagten kalte Schauer über meinen Rücken. Als Kind hatte ich immer gehofft, ein Unfall würde den Arzt oder die Ärztin erledigen, während ich im Wartezimmer saß, oder dass er aus irgendeinem Grund nicht mehr arbeiten konnte, aber jedes Mal blieben mein Flehen und Hoffen vergebens. Irgendwann wurde mein Name aufgerufen und ich musste hinein. Meistens war es gar nicht so schlimm, aber das unangenehme Gefühl hatte sich erhalten.
Es war still in der Praxis. Keine beruhigende Musik, kein Telefonklingeln, kein Bohren aus einem der Zimmer. Mucksmäuschenstill, so dass ich das Ticken der Uhr an der Wand hören konnte. Der Geruch machte mich kribbelig.
Endlich öffnete sich eine Sprechzimmertür und ein großer Mann trat heraus. Er maß fast zwei Meter und war ziemlich kräftig. Ich stellte mir vor, wie mühelos der meinen maroden Weisheitszahn entfernt hätte, und jaulte bei der Erinnerung an die grausame Prozedur vor zwei Jahren bei meiner Zahnärztin innerlich auf. Ich hatte eigentlich nichts gegen Frauen in allen Berufen, aber in diesem Fall hätte ich am liebsten die Uhr zurückgedreht und die Emanzipation rückgängig gemacht. Sie hatte exakt vierundachtzig Minuten an meinem unteren Weisheitszahn gezogen und gezerrt, bis er sich endlich aus meinem Kiefer löste und sich in ihren zarten Händen befand. Beim Bohren oder mit Kronen war sie unglaublich genau, sensibel und zart, aber nach diesem Erlebnis war ich nie wieder in ihren Zahnarztstuhl zurückgekehrt.
Dr. Engel kam auf mich zu und gab mir seine Hand, wobei er sie kräftig schüttelte. Ich schüttelte zurück und beschloss, mir seine Praxis für meinen nächsten Weisheitszahn-Notfall vorzumerken.
»Ich bin Dr. Engel. Haben wir einen Termin?«
»Nein. Haben wir nicht. Ich möchte Sie auch gar nicht belästigen. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie Noah Degenhardt kennen. Der hat hier im Haus gewohnt und eine Kanzlei gehabt.«
»Degenhardt? Ist das nicht der, der im letzten Jahr den Unfall hatte?«
»Ja. Genau der.«
»Ja, ich kannte ihn, aber nur dem Namen nach. Vielleicht bin ich ihm mal begegnet, aber ich könnte nicht sagen, wie er aussieht. Was ist mit ihm?«
»Ich arbeite an einem Artikel und bin mitten in den Recherchen dazu, aber ich bräuchte dafür ein paar Aussagen seiner Familie. Sie wissen nicht zufällig, wo die wohnt? Er soll verheiratet gewesen sein, kennen Sie seine Frau?«
»Nein, kenne ich nicht. Da müssten Sie Schwester Agnes fragen, meine Sprechstundenhilfe. Die kennt jeden im Haus. Kommen Sie doch am Montag wieder, da ist sie da.«
»Okay, mach ich. Vielen Dank.«
»Am besten vor acht, da ist noch nichts los hier.«
»Geht klar. Danke.«
Ich ging wieder hinaus, holte tief Luft und pumpte mit ganzer Kraft die schreckliche Praxisluft wieder aus meinen Lungen heraus.
Als ich zu Hause ankam, schlug mir schon im Hausflur leckerer Kuchenduft entgegen. In der Wohnung fand ich Nicole mit der Glasur einer Schokoladentorte beschäftigt, meinem Lieblingskuchen.
Ich ging schnell ins Arbeitszimmer, wo ich die Akten in das unterste Fach zu meinen anderen Geheimnissen legte, bevor ich mich auf den Weg in die Küche machte.
Nicole drehte sich zu mir um, als ich den Raum betrat und lächelte mir ruhig entgegen. Ich hoffte, dass sie unseren Streit von gestern schon vergessen oder wenigstens verziehen hatte, und kam etwas unsicher näher.
»Hallo, Peter. Schön, dass du wieder da bist. War aber ein langes Treffen mit Franz.«
In ihrer Stimme klang überraschenderweise kein Vorwurf mit.
»Ja, tut mir leid. Hat alles etwas länger gedauert.«
»Ich hab Deinen Lieblingskuchen gebacken. Ich hoffe, Du hast Hunger.«
Es war inzwischen schon später Nachmittag und ich hatte seit dem Frühstück noch nichts gegessen.
»Klar, habe ich Hunger. Und was für welchen!«
Sie lächelte immer noch. Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie wirklich so wertfrei fühlte, wie sie eben gesprochen hatte, doch als sie sich zum Küchenschrank umdrehte und Teller und Tassen herausnahm, wurden meine Zweifel beseitigt. Sie war offenbar wirklich
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