Das sechste Opfer (German Edition)
unterwegs. Das letzte Mal, dass ich Clara gesehen habe, war mit dir im Hausflur neulich. Weißt du noch?«
»Ja, ich weiß. Und danach?«
»Nein. Ich hab sie nicht gesehen.«
»Die ganze Woche nicht?«
»Nein!«
»Das ist die Wahrheit?«
»Ja, ich schwöre es hoch und heilig.«
Sie legte sich wieder hin. Ich hoffte, sie spürte nicht den feuchten Film des Angstschweißes auf meiner Haut, als sie mich umarmte.
»Okay. Ich bitte dich, mir immer die Wahrheit zu sagen, Peter. Auch wenn es unangenehm ist. Ja? Ich möchte nicht so enden, dass du es hinter meinem Rücken wild treibst und ich keine Ahnung davon hab. So dass ich nur langsam merke, wie du mir immer fremder wirst. Das wäre schrecklich.«
»Ich weiß. Ich werde dich nicht belügen.«
»Gut.«
Sie schmiegte sich wieder an mich und ich merkte, wie sie sich langsam entspannte. Wir sprachen danach kaum noch, sondern ich spürte, wie ihr Kopf auf meiner Schulter langsam immer schwerer wurde und ihr Atem immer gleichmäßiger ging. Sie war eingeschlafen.
Doch ich konnte nicht schlafen. Ich dachte nicht, dass sie wirklich die Wahrheit wissen wollte, sondern dass es ihr viel besser gefiel, zu glauben, die Wahrheit zu kennen. Der Glaube an eine Sache, auch an die Wahrheit, ist oft wichtiger als die Wirklichkeit, so verrückt es auch klingen mag. Wie viele Beziehungen sind daran zerbrochen, dass ein Partner seinen Seitensprung gestanden hat, nur um die Last der Lüge von seiner Seele zu wischen. Hätte er geschwiegen und seinen Partner glauben lassen, alles wäre in bester Ordnung, könnten sie heute Silberne Hochzeit feiern. Ich will meine Lügen damit nicht entschuldigen, aber ich denke, dass Nicole die ganze Zeit etwas geahnt hat aber glauben wollte, dass da nichts war und sie meiner Treue und Redlichkeit vertrauen wollte und sich deshalb mit meiner Antwort zufrieden gab.
Warum fühlte ich mich dann trotzdem wie ein Lügner und Betrüger? Ich war ein egoistisches Schwein und ich hasste mich dafür. Ich hatte meiner Frau offen ins Gesicht gelogen, ihr Lügengeschichten erzählt. Doch wenn ich ihr die Wahrheit über Clara sagen würde, wäre es vorbei mit uns. Das würde sie mir niemals verzeihen. Und wenn ich ihr lediglich von meinem Roman und den Recherchen dazu erzählen würde, würde sie sich ebenfalls wundern. Und sie würde sich fragen, warum ich so ein Geheimnis daraus machte. Es blieb mir immer noch die Möglichkeit, alles auf Franz zu schieben, oder die ganze Geschichte ad acta zu legen und mich wieder ausschließlich um meine Artikel zu kümmern.
Ich lauschte ihrem Atem, der sanft über meine Haut an der Schulter strich. Sie sah so friedlich und sanft aus, wenn sie schlief. Eine Haarsträhne fiel in ihr Gesicht, ihre Hand mit dem Ehering hob und senkte sich mit jedem meiner Atemzüge. Ich legte meine Hand auf ihre Hand und starrte in die Dunkelheit.
Das Zeichen
Es war 3:42 Uhr, als Franz Geier zum dritten Mal in dieser Nacht aus seinem unruhigen Schlaf erwachte. Müde und zerschlagen hob er den Kopf, um auf die Uhr des DVD-Players zu starren, der unter dem Fernseher am Fußende seines Bettes stand. Es war stockdunkel im Schlafzimmer, nur das fluoreszierende Licht der Ziffern der Uhr erleuchtete in einem minimalen Radius das Zimmer. Das Licht der Stadt schaffte es nicht, die schweren, dunklen Vorhänge vor dem Fenster zu durchdringen. Auch kein Straßenlärm kam hinein, was bei einem Altbau in Schöneberg ein echtes Wunder war. Aber Franz arbeitete oftmals in der Nacht und schlief danach am Tag, und da er Ohrenstöpsel und Schlafbrillen aus tiefster Seele verabscheute, hatte er seine Wohnung vor allem Äußeren abgedichtet. Es war harte Arbeit gewesen und hatte auch mehrere tausend Mark gekostet, damals waren es noch Mark, aber es hatte sich schon mehrmals bezahlt gemacht.
Er schloss die Augen und versuchte, wieder zu schlafen, doch es klappte nicht. In seinem Kopf rotierte es. Die Witwe hatte aus Florida noch nicht geantwortet, und das Gespräch mit der ehemaligen Freundin des Apothekers war nicht wirklich ergiebig gewesen. Dafür hatte das Gespräch mit dem Pathologen interessante Erkenntnisse gebracht.
Franz hatte Recht behalten, die Gerichtsmediziner, die die Autopsie bei den angeblichen Unfallopfern durchgeführt hatte, gab es in der Berliner Gerichtsmedizin nicht. Keiner wusste, woher sie kamen und für wen sie arbeiteten. Sie waren Geister. Er hatte sie am Nachmittag einmal spaßeshalber durch die Datenbank der Redaktion gejagt, doch kein Ergebnis
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