Das sechste Opfer (German Edition)
Wort wurde Nicole ernster und stiller. Ihr Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst, zwischen ihren Augen grub sich eine Falte immer tiefer in ihre Stirn.
Als ich fertig war, sah sie mich stumm an, doch dann schüttelte sie den Kopf.
»Und neulich hast du mir noch hoch und heilig geschworen, mich nicht zu belügen. Dabei hattest du es in diesem Moment gerade wieder getan. Was wirst du mir morgen erzählen? Dass das alles nicht stimmt und du eigentlich Staatsfeind Nr. 1 bist, dem sie endlich auf die Schliche gekommen sind?«
Ihre Stimme klang müde und resigniert. Das gefiel mir gar nicht.
»Ich wollte dich nicht belasten. Ich dachte, es würde dich nur aufregen.«
»Dass fremde Menschen vielleicht in meiner Wohnung waren, natürlich regt mich das auf!«
»Na, dann war es doch gut, dass ich es dir nicht sofort erzählt habe. Jetzt ist es nur noch halb so schlimm.«
Sie schüttelte den Kopf. »Deine Logik ist unfassbar. Willst du nicht lieber die Polizei rufen?«
»Nein, dann würden sie alles über mich herausfinden und ich müsste dir morgen erzählen, dass ich Staatsfeind Nr. 1 bin. Und das willst du ja nicht.«
Ich versuchte ein Lächeln, doch sie warf mir nur einen Blick zu, der eine Mischung aus Unverständnis und Missbilligung war.
»Lass es lieber, Peter. Ich hab keine Lust mehr auf deine Witze.«
»Okay. Es geht nicht, das habe ich dir schon gesagt.«
»Mehr fehlt nicht? Nur die Akten?«
»Nur die Akten. Ich hab alles kontrolliert.«
»Bist du dir sicher, dass du dir nicht alles nur einbildest?«
Ich schwieg.
Sie sah mich noch immer mit diesem merkwürdigen Blick an. »Und falls es stimmt, hast du einen Verdacht, wer dahinter stecken könnte?«
»Nein. Habe ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was gespielt wird.«
»Meinst du nicht, dass das alles nur Zufall sein kann? Bei deinem Verfolger bist du dir ja auch nicht sicher, wenn du dir das Nummernschild nicht angesehen hast. Es gibt Tausende silberne BMWs in Berlin. Aber wenn man einen Zusammenhang sehen will, findet man auch einen. Genauso, wie man angeblich einen Schmetterling in China mit einem Tornado in Mexiko verbinden kann. Alles Schwachsinn.«
Sie meinte die Chaosforschung, die ich für alles andere als Schwachsinn hielt. Aber ich hatte keine Lust, jetzt mir ihr darüber zu diskutieren.
»Es kann alles Zufall sein. Aber vielleicht erfahre ich ja morgen mehr, wenn ich den Termin mit dem unbekannten Mann habe.«
»Der vielleicht der Schwiegervater von deinem angeblichen Opfer ist, oder der Onkel, oder ein Geliebter oder was weiß ich.«
»Na gut, dann werde ich das morgen eben erfahren und wissen, ob ich mir alles nur einbilde.«
In diesem Moment vermisste ich Franz schmerzlich, der mir und meinen Theorien sofort Glauben geschenkt und mich sogar noch darin bestärkt hätte.
Stattdessen steigerte sich Nicole weiter in ihre Ansicht hinein, dass alles nur ein Zufall sei. Doch ich hörte kaum noch hin.
In Gedanken überlegte ich mir schon eine Strategie, wie ich diesem Unbekannten am besten auf den Zahn fühlen konnte.
***
Es regnete leicht, als ich vor dem roten Klinkerbau vorfuhr, in dem mein noch unbekannter Gesprächspartner wohnte. Hinter Büschen und Bäumen versteckt stand das dreistöckige Wohnhaus, zu dem ein schmaler, gepflasterter Weg führte. Das Haus gehörte zu einer Anlage, die aus mehreren solchen Häusern bestand. Sie standen relativ dicht nebeneinander, nur durch einen schmalen Grasstreifen getrennt. Alles wirkte freundlich, aber auch sehr eng. Wenn man hier friedlich wohnen wollte, durfte man keine Hobbys wie Trompete blasen haben oder ein Heimwerker-Fan sein.
Die Parkplätze lagen nur wenige Meter entfernt neben den Mülltonnen.
Ich stieg aus und schloss das Auto ab, bevor ich mich auf den Weg zum Haus machte. Aus dem geöffneten Fenster in Erdgeschoss drang Tellerklappern, sonst war es ziemlich still. Nur der Regen tröpfelte leise auf das Plastikdach über der Haustür.
Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich mich wohl fühlte in diesem Moment. Im Gegenteil. Ich spürte ein undefinierbares Grummeln in meinen Eingeweiden, das mir riet, lieber das Weite zu suchen, als sich auf diese merkwürdige Verabredung einzulassen. Zumal ich keine Ahnung hatte, bei wem ich hier klingeln musste. Aber gerade als ich irgendeine Klingel drücken wollte, schob sich aus dem Fenster im Erdgeschoss der Kopf eines bärtigen Mannes.
»Sind Sie Herr Mustermann?«, rief er mir mit seiner dunklen, festen Stimme zu.
»Ja, bin ich. Sind wir
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