Das sechste Opfer (German Edition)
sie herein. Sie stürmte an mir vorüber und rannte ins Wohnzimmer, wo sie ihre Tasche aufs Sofa knallte.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wir haben nicht einmal einen Streit, sondern ich gebe mir Mühe, dir deine Freiheit zu lassen und deinen Hirngespinsten mit dem Buch entgegenzukommen und du lässt einfach die Schlösser auswechseln, ohne mir Bescheid zu sagen? Was ist los mit dir?«
Ich versuchte, sie zu beschwichtigen.
»Das hat nichts mit uns zu tun. Das ist nur eine Sicherheitsvorkehrung. Hier ist eingebrochen worden in der Nachbarschaft und das wollte ich nicht riskieren. Und nachdem das mit Franz passiert ist...« Ich ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.
Sie war noch nicht beruhigt. »Ich steh vor der Tür wie eine Bekloppte. Hättest du mich nicht warnen können?«
»Es ging alles so schnell. Ich wollte es, aber da warst du schon unterwegs. Und ich wartete ja hier, um dich reinzulassen.«
Ich gab ihr einen neuen Schlüssel.
»Wo ist denn eingebrochen worden?«
»Im Nebeneingang, und aus der Tiefgarage haben sie ein Moped gestohlen.«
»Stimmt. Ich habe den Aushang gelesen.«
Seit ein paar Tagen hing an der Haustür der Zettel eines verzweifelten Hausbewohners. Damit wurde meine Lüge überzeugender.
»Was wurde sonst noch gestohlen?«
»Schmuck, Porzellan, Geld.« Meine Nachbarn sahen zwar nicht so aus, als würden sie teure Diamantkolliers besitzen, aber Aussehen bedeutete ja bekanntlich gar nichts.
Sie nahm den Schlüssel und steckte ihn ein. Dann zog sie ihre Jacke aus und ging an mir vorbei in den Flur.
Ich folgte ihr. »Wie war die Arbeit?«
»Ganz okay. Wir werden eine Immobilie an ein französisches Finanzkonsortium verkaufen.«
Sie lächelte müde.
»Toll! Das ist toll! Hast du das Konzept gemacht?«
»Ja.« Jetzt schwang auch etwas Stolz in ihrem Lächeln mit.
»Herzlichen Glückwunsch! Soll ich den Champagner kaltstellen?«
Nicole schüttelte erschöpft den Kopf, wandte sich ab und ging in die Küche, um im Kühlschrank nach etwas Essbarem zu suchen. Ich folgte ihr.
»Franz' Beerdigung wird nächste Woche Mittwoch sein. Ich wollte heute mit seiner Mutter sprechen, aber sie war ruhiggestellt.«
»Oh Gott. Die Ärmste.«
Sie drehte sich wieder zu mir um. Ihr Gesicht war ernst, wie meines.
»Es muss furchtbar sein, ein Kind zu verlieren.«
Während wir so standen und jeder seinen Gedanken nachhing, wie schlimm es sein musste, sein geliebtes Kind, das man geboren hat, aufwachsen sah, für das man nur das Beste dieser Welt wollte, eines Tages zu Grabe zu tragen, hatte ich das Gefühl, dass wir uns plötzlich wieder unheimlich nahe waren. Wir stiegen aus unseren eigenen Sorgen und unserem festgefahrenen Ich aus und näherten uns über das Leid der anderen Frau an. Nicole blickte mit ihren hellen Augen gedankenverloren in die hinterste Ecke der Küche, wobei sie so verletzlich und weich wirkte, dass ich sie am liebsten in die Arme genommen hätte, um sie zu trösten. Als ich auch noch eine Träne in ihren Augen schimmern sah, ging ich tatsächlich auf sie zu und umarmte sie, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich wegschieben würde.
Aber das tat sie nicht. Sie lag in meinen Armen und schmiegte sich an mich.
»Wann war das?«, fragte sie an meiner Schulter.
»Was?«
»Dass du sie angerufen hast.«
»Heute Mittag.«
»Dann versuche ich es jetzt noch einmal. Vielleicht braucht sie uns heute Abend.«
»Ja.«
Sie löste sich von mir und ging ins Wohnzimmer, während ich ihre abgebrochene Suche im Kühlschrank fortsetzte. Doch gerade, als ich eine vielversprechende Gyrospfanne im Tiefkühlfach fand, kam sie zurück. In der Hand hielt sie das Telefon.
»Ist das neu?«
»Äh. Ja.«
»Warum?«
Jetzt musste ich mich wieder zwischen Lüge und Wahrheit entscheiden, wie so oft in letzter Zeit. Ich konnte ihr erzählen, dass ich es aus Versehen kaputt gemacht hatte, oder ich beichtete ihr einfach die ganze Wahrheit. Alles. Unser gemeinsamer Moment der Nähe klang noch in mir nach, so dass ich mich für die Wahrheit entschied.
Ich erzählte ihr von den ganzen Recherchen, wie Franz plötzlich Feuer gefangen hatte und auf eigene Faust zu forschen begann, von den merkwürdigen Unfällen im Laufe der vergangenen Jahre, von dem Einbruch bei uns wegen der Akten, von der Geschichte mit Franz und meinen Zweifeln an einem natürlichen Tod. Ich kam sogar bis zu dem seltsamen Zeichen in Werners Kugelschreiber. Ich erzählte ihr alles, nur die Nacht in Claras Bett, in der alles anfing, verschwieg ich ihr.
Mit jedem
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