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Das sexuelle Leben der Catherine M.

Das sexuelle Leben der Catherine M.

Titel: Das sexuelle Leben der Catherine M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Millet
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die Figur des Gottvaters wiederfinden, um zu verstehen, dass dieser Stupor der Eingeschlossenheit eines Kindes ähnlich ist. »Der furchtbare Schrecken, den er empfunden, vergrößerte die Gegenstände um ihn her. Er empfand Eindrücke, die jedoch seinem Geiste nicht zu Bewusstsein kamen … Dazu kommt noch, dass das Kind eine Gabe besitzt, eine Empfindung bald abzuschütteln«, las ich in Der lachende Mann und fand endlich die Erklärung für meine Stumpfheit. Und ich kann bestätigen, dass man auch noch später, wenn man selbst eine Körpergröße hat, die keine Vergrößerungen mehr zulässt, etwas erleiden kann, das ich folgendermaßen definieren würde: Das Unverständnis gegenüber einem Unrecht, das einem nicht einmal Zugang zu dem Gefühl für dieses Unrecht gibt. Auf dem ganzen Weg von der Rue Las-Cases zu Notre-Dame-des-Champs wurde ich geschlagen, in den Rinnstein getreten; wenn ich mich wieder aufrappelte, wurde ich durch Stöße in Rücken und Nacken gezwungen weiterzugehen, wie man früher schlechte Schüler in den Karzer getrieben hat. Wir kamen zurück von einem Abend, der keine Wende zum Gruppensex genommen hatte, nur einmal war es lebhaft geworden, als ich von einem bekannten Herrn zu einer Kavalkade geführt wurde und er mit mir in ein unbeleuchtetes Zimmer tanzte, mich auf ein Sofa drückte und mir ins Ohr sabberte. Der Freund, der mich schlug, hatte mich jedoch schon auf Partys begleitet, die anders ausgegangen waren. Als ich den Weg durch diese Hölle in der Nacht noch einmal durchlief in der vergeblichen Hoffnung, ein Schmuckstück zu finden, das ich unter den Schlägen verloren hatte, konzentrierte ich mich ausschließlich auf diesen Verlust. Ein anderes Mal brachten mir meine dummerweise detaillierten Schilderungen eine zwar weniger jähzornige, aber nicht weniger brutale Rache ein: Ich schlief auf dem Bauch, und er brachte mir an der rechten Schulter einen Schnitt mit dem Rasiermesser bei. Die Klinge hatte er vorher sorgfältig über der Herdflamme desinfiziert. Die Narbe sieht aus wie ein offener Mund und zeigt sehr gut, was ich empfand.
    Meine eigene Eifersucht regte sich nur in wenigen Fällen. Mit dem Sex habe ich auch meine intellektuelle und berufliche Neugier gestillt, doch gegenüber dem Liebes- und Gefühlsleben meiner Freunde war ich völlig gleichgültig, mehr noch: Ich empfand dafür fast ein wenig Verachtung. Eifersuchtsanfälle hatte ich nur bei den Männern, mit denen ich das Leben teilte, und in beiden Fällen waren es komischerweise sehr unterschiedliche Gründe, die dazu geführt hatten. Ich litt jedes Mal, wenn Claude von einer Frau verführt wurde, die ich hübscher fand als mich. Ich bin nicht hässlich, wenn man meine äußere Erscheinung insgesamt mag, mein Aussehen an sich ist jedoch nicht besonders. Es machte mich wütend, dass ich meine sexuellen Künste nicht grundsätzlich uneingeschränkt von meinem Äußeren vervollkommnen konnte, einem Äußeren, das mich eher zur Zurückhaltung drängte. Es hätte mir wirklich gefallen, wenn die beste Schwanzlutscherin, die Erste, die bei den Partys immer loslegte, nicht klein gewesen wäre und wenn sie nicht zu eng stehende Augen und eine zu lange Nase gehabt hätte … Ich kann mit äußerster Genauigkeit beschreiben, zu welchen Frauen sich Claude hingezogen fühlte: dreieckiges Gesicht, das Haar im Stil einer »Isolde für Spießer«, zierlicher Oberkörper, der dafür die runden Schultern und die konischen Brüste schön zur Geltung bringt, leuchtende Augen, jedoch von einem anderen Braunton als bei mir, glatte Stirn, Puppenwangen. Es versteht sich von selbst, dass dieser Widerspruch, der sich nicht mit dem Prinzip der sexuellen Freiheit vereinbaren lässt, den Schmerz unaussprechlich macht und dass ich genauso unaussprechliche Heulkrämpfe bekam und mich hysterisch bog, sodass ich den Körpern, die Paul Richer zeichnete, in nichts nachstand.
    Mit Jacques nahm meine Eifersucht die Form eines schrecklichen Gefühls des Ausgeschlossenseins an. Die Vorstellungen, die ich mir von einer Frau machen konnte – wie sie in einer uns vertrauten Umgebung während meiner Abwesenheit mit ihrem Hintern die Sicht auf seinen Schwanz versperrt oder wie sie mit ihrem ganzen Körper präsent war, sich ausbreitete und selbst noch den kleinsten Teil unserer Umgebung besetzte, das Trittbrett am Wagen, ein Rankenmuster auf der Husse eines Sofas, den Rand des Spülbeckens, der gegen den Bauch drückt, wenn man eine Tasse ausspült, wenn gar ihre

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