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Das sexuelle Leben der Catherine M.

Das sexuelle Leben der Catherine M.

Titel: Das sexuelle Leben der Catherine M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Millet
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ganz offensichtlich einen ganz anderen Gedanken verfolgt als das Gesprächsthema, verhalte ich mich genauso bescheiden wie damals bei meiner ersten Prüfung mit dem Großvater. Aus diesem Grund findet sich in meinem Schrank weder ein weit ausgeschnittenes noch ein eng anliegendes Kleid. Diese Scham wirkt sich auch auf meine Umgebung aus. Wenn ich neben einer freizügig gekleideten Frau sitze, zupfe ich reflexartig an meinem Rocksaum und ziehe die Brust ein. In solchen Situationen fühle ich mich so unwohl, als wäre ich in diese Frau geschlüpft und als würde sie meinen Körper entblößen, außerdem fühle ich mich unwohl wegen meiner oben beschriebenen Neigung, ohne abzuwarten gleich aufs Ganze zu gehen. Indem ich meine Kleidung zurechtziehe, halte ich mich also zurück, meine Hand zwischen den halb entblößten Busen gleiten zu lassen und ihn ganz zu enthüllen. Dennoch trug ich lange Zeit überhaupt keine Unterwäsche. Ich habe vergessen, warum ich es mir abgewöhnt hatte. Sicherlich nicht, weil ich den Feministinnen folgte, die forderten, dass man den BH in den Orkus werfen sollte, diese Einstellung habe ich nie vertreten, aber vielleicht folgte ich demselben Geist, wenn ich nicht auf ein verführerisches Accessoire zurückgreifen wollte. Das kann natürlich genau die umgekehrte Wirkung haben; eine Brust, die man nackt unter dem Kleid erahnen kann, ist genauso aufreizend wie eine Brust, die durch einen BH hervorgehoben wird, aber sie ist »natürlich«. Wenigstens glaubte ich, mich gegen den Verdacht zu wappnen, eine Eroberungsstrategie zu verfolgen. So legte ich auch den Slip ab. Jahrelang musste ich abends den Zwickel der Hose waschen, die ich tagsüber getragen hatte, wo es doch viel schneller gegangen wäre, einen Slip in die Waschmaschine zu stecken. Aber ich fand es einfacher, die Kleider direkt auf der Haut zu tragen. Das schrieb mir ein gewisser Minimalismus, fast Funktionalismus vor: das Prinzip, nach dem ein freier Körper sich nicht schmücken muss, dass er jederzeit bereit ist, dass man keinerlei Präliminarien durchlaufen, keine Spitze enthüllen, nicht an den Schließen des BHs herumfummeln muss. Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich es nicht gut leiden kann, wenn ein Mann eine Frau anmacht, indem er sie mit Blicken auszieht, ich mag es, mich richtig auszuziehen, am besten mit einer einzigen Bewegung. Kein Weg ist kontrastreicher als der, dem der subjektive Blick folgt. Wie auf einer Gebirgsstraße mit Tunneln fährt man ständig im harten Wechsel aus der Dunkelheit ans Licht und aus dem Licht in die Dunkelheit. Ich will erklären, dass ich lieber etwas bedeckt halte, was man völlig selbstverständlich entblößt, während ich auf diesen Seiten intime Dinge erzähle, die die meisten Menschen geheim halten. Wenn man ein Buch in der ersten Person schreibt, verbannt man natürlich diese Person auf den Rang der dritten Person, wie bei der Psychoanalyse, die einem hilft, unterwegs einige alte Kleidungsstücke abzulegen. Je detaillierter ich meinen Körper und meine Tätigkeiten beschreibe, desto mehr löse ich mich von mir selbst. Wer erkennt sich in diesen Vergrößerungsspiegeln, die Wangen und Nase als riesige, rissige Flächen zeigen? Manchmal erzeugt der Orgasmus die gleiche Art von Distanz, »man geht aus sich heraus«. Vielleicht ist sogar die Beziehung strukturell, und die Distanz bewirkt den Orgasmus genauso wie umgekehrt, wenigstens bei den Menschen, zu denen ich gehöre. Denn, und darauf will ich eigentlich hinaus, die Frau, die ich beschrieben habe, die, die sich von einem beharrlichen Blick peinlich berührt fühlt, die, die nur ungern ein verführerisches Kleidungsstück anzieht, die Gleiche stürzt sich blind in erotische Abenteuer, wo die Partner kein Gesicht haben, die Gleiche zieht ganz offensichtlich Lust aus ihrer Zurschaustellung, vorausgesetzt, diese Zurschaustellung ist von Anfang an distanziert, das Objekt einer Spiegelung, einer Fantasie.
    Diesbezüglich sind Bild und Sprache Komplizen. Wenn es so anstachelt, in einem Spiegel auf den Zentimeter genau zu messen, wie viel Fleisch sein eigenes Fleisch aufnehmen kann, dann weil der Anblick auch als Vorwand für Kommentare dient. »Hoppla! Wie schön er gleitet! Wie weit er hineingeht!« – »Warte, ich lasse ihn noch draußen, damit du ihn besser sehen kannst, ich stopfe dich nachher …« Jacques und ich führen gerne einen Dialog, der sich durch Sachlichkeit auszeichnet. Wenn das Vokabular obszön und begrenzt ist, dann

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