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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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mit Laternen und vielen Läden war schließlich nur jenes Stück Landstraße, das durch die Stadt hindurchführte. Aber der Stufenweg, den der alte Mann hinter sich hatte, war für die Bauern, die nicht aus den Maindörfern über die Landstraße kamen, sondern aus abseitigen Dörfern, die kürzeste Verbindung zum kleinen Markt.
     
    Der alte Mann war Aldinger, der sechste der sieben Flüchtlinge, seit sich Füllgrabe freiweillig zurückbegeben hatte. Keiner in Westhofen hätte im Ernst geglaubt, Aldinger könnte auf seiner Flucht auch nur bis Liebach kommen. Wenn er nicht in der nächsten Stunde gefangen würde, dann in der übernächsten. Inzwischen war schon der Freitag gekommen und Aldinger bis nach Wertheim. Er hatte nachts in den Feldern geschlafen, einmal war er von einem Möbelwagen vier Stunden mitgenommen worden. Allen Streifen war er entgangen, nicht durch List, damit hatte sein Kopf nichts mehr zu tun. Im Lager hatte man schon an seinem Verstand gezweifelt. Er war auf Tage verstummt, um bei einem Befehl plötzlich loszukichern. Hundert Zufälle hätten stündlich zu seiner Verhaftung führen können. Der gestohlene Kittel deckte kaum seine Sträflingskleidung. Aber von hundert Zufällen hatte sich keiner erfüllt.
     
    Aldinger kannte keine Überlegung, keine Berechnung. Er kannte nur die Richtung. So stand die Sonne auf seinem Dorf am Morgen, so am Mittag. Hätte die Gestapo, statt den feinen und mächtigen Apparat der Fahndung in Bewegung zu setzen, eine Gerade gezogen von Westhofen bis nach Buchenbach, sie hätte ihn bald auf einem Punkt dieser Geraden gestellt.
     
    Über der Stadt blieb Aldinger stehen und sah sich um. Das Gezucke in seinem Gesicht hörte auf, sein Blick wurde härter, seine Witterung für die Richtung, j ener beinahe unmenschliche Sinn, beruhigte sich in ihm, da er unnötig wurde. Hier kannte sich Aldinger aus. An dieser Stelle hatte er einmal im Monat seine Fuhre halten lassen. Seine Söhne hatten die Körbe auf den kleinen Markt heruntergetragen. Währenddessen hatte er sich das Land betrachtet. Lag auch sein Dorf nicht weitab – all diese teils bewaldeten, teils bebauten Hügelchen, die sich im Wasser spiegelten, der Fluß selbst, der alles bloß auffing, um es zurückzulassen, sogar die Wolken, die Boote, in denen die Menschen abtrieben, warum eigentlich? – All das war früher in seinen Augen etwas Fernes und Abschweifendes. Früher, das war das Leben, in das er zurück wollte, darum war er geflohen. Früher, so hieß das Land, das hinter der Stadt begann. Früher, so hieß sein Dorf.
     
    In den ersten Tagen in Westhofen, als die ersten Beschimpfungen und Faustschläge auf seinen alten Kopf geprasselt waren, hatte er Haß und Wut gekannt und auch die Lust auf Rache. Aber die Schläge waren dichter gefallen und härter, und sein Kopf war alt. Nach und nach waren ihm alle Wünsche zerschlagen worden, sich an den Schandtaten zu rächen, ja selbst die Erinnerung an die Schandtaten. Aber das, was die Schläge übriggelassen hatten, war immer noch mächtig und stark.
     
    Aldinger kehrte dem Main den Rücken und trottete weiter auf dem Feldweg zwischen den Rillen der Fuhren. Er sah sich um, aber nicht unstet, sondern jetzt jeweils feste Punkte zum Ziel nehmend. Sein Gesicht war jetzt minder verwildert. Er trottete ein Hügelchen herunter und ein anderes herauf. Er kam durch ein Tannenwäldchen und durch eine kleine Schonung. Die Gegend schien menschenleer. Aldinger kam durch ein kahles Feld, durch einen Rübenacker. Es war immer noch ziemlich warm. Nicht nur der Tag, das ganze Jahr schien stillzustehen. Aldinger spürte schon jetzt das Frühjahr in allen Gliedern.
     
    Der Bürgermeister Wurz von Buchenbach war an diesem Tag nicht aufs Feld hinaus, wie er vorgehabt oder doch geprahlt hatte, sondern in sein Amtszimmer gegangen, worunter er sein Wohnzimmer verstand, ein muffiges, vollgestopftes Zimmerchen, das ihm als Bürgermeisterei und Standesamt diente. Seine Söhne hatten ihm zugeredet, ruhig aufs Feld zu gehen, denn sie wünschten sich einen heldenhaften Vater. Aber Wurz hatte sich doch seiner Frau gefügt, die nicht zu jammern aufhörte. Buchenbach war noch immer von Posten umstellt, außerdem hatte Wurzens Gehöft besondere Wachtposten. Darüber lachten die Leute. Aldinger würde es sicher nicht einfallen, in das Dorf hineinzuspazieren. Der würde eine andere Gelegenheit suchen und finden, Wurz aufs Korn zu nehmen. Wie lange wollte sich Wurz denn diese Leibgarde halten?

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