Das siebte Kreuz
übrig?« – »Von wo übrig?« – »Von den Flüchtlingen.« – »Ein Alter, ein Junger.« – »Und der Junge, das soll einer von hierherum sein.« – »Das ist doch Einbildung von den Leuten«, sagte der Schweißer, der wieder da ist, so, als sei er unter die Seinen nach langer Reise zurückgekehrt. »Warum soll er in seine eigene Stadt flüchten, wo ihn Hunderte Menschen kennen?« – »Das hat auch Vorteile für den Mann, einen Fremden zeigen die Leute viel leichter an. Stellt euch zum Beispiel mal vor: mich anzeigen!« Der das sagt, ist ein Kerl wie ein Pferd. Hermann hat ihn früher mal als Saalschutz, mal auf einer Demonstration gesehen, immer mit seinem hervorgedrückten Brustkorb. »Was kostet die Welt?« In den letzten drei Jahren hat er manchmal bei ihm angetippt, was der Kerl nie zu verstehen schien. Plötzlich hat Hermann den Eindruck, der verstünde mehr als er zeigt. – »Herzensruhig würd ich dich anzeigen, warum denn nicht? Wenn du durch irgend etwas aufhörst, mein Kamerad zu sein, dadurch hörst du doch längst auf, mein Kamerad zu sein, ehe ich aufhöre, deiner zu sein, weil ich dich anzeige.« Der das sagt, ist der Lersch, der Nazivertrauensmann, sagt es in eigentümlich deutlichem Ton, den die Menschen annehmen, wenn sie Standpunkte auseinandersetzen. Mit gespanntem Knabengesicht sieht ihm der kleine Otto auf den Mund, Lersch lernt den Jungen selbst an – mit dem Lötkolben und im Aufpasserspielen. Hermann sieht sich den Jungen kurz an, der Erste Scharführer bei der HJ, aber kein patziger, sondern ein stiller, selten lächelnder, übermäßig gespannt in allen Bewegungen. Hermann dachte oft über den Jungen nach, der dem Lersch, wie man das nennt, blind ergeben ist. Jener Alte erwidert ruhig: »Richtig, bevor mich jemand anzeigt, muß er sich überlegen, ob ich überhaupt etwas angestellt hab, wodurch ich aufhör, sein Kamerad zu sein.«
Aus der Kantine zogen sich viele in ihrer Ecke zusammen. Hermann warf nichts mehr dazwischen. Das zerknitterte Stück Butterbrotpapier faltete er zusammen und steckte es ein, damit es Else morgen wieder verwerten könnte. Er war fast sicher, daß Lersch ihn beobachtete, etwas Unfaßbares an ihm witterte, das doch schließlich in einem Wort, an einer Stelle zu fassen sein mußte.
Alle sprangen diesmal erleichtert auf, als das Pausenzeichen schrillte, weil von außen etwas beendet wurde, was sich von innen nie beenden ließ.
An diesem Mittag geriet ein Trupp Kinder, der durch eine der kleinen Straßen von Wertheim heimtrabte, über etwas in einen Streit, das eher ein Spiel war, teilte sich in zwei Parteien und prügelte sich. Ihre Schulsachen hatten die meisten beiseite geworfen.
Plötzlich stutzte einer der Kampfhähne, wodurch das Spiel ins Stocken kam. Ein alter, zerlumpter Mann stand am Rand der Straße und bohrte in den Schulsachen. Er hatte eine übriggebliebene Brotkante erwischt. »He – Sie –!« sagte einer der Buben. Der alte Mann trottete kichernd ab. Die Buben ließen ihn ungeschoren. Sonst waren sie Feuer und Flamme für jeden Unfug, jetzt packten sie ihre Siebensachen. Der alte Mann war ihnen äußerst zuwider gewesen mit seinem Gekicher und seinem haarigen, wilden Gesicht. Wie auf Verabredung erwähnten sie ihn gar nicht. Der Alte trottete in entgegengesetzter Richtung aus der Stadt heraus. Bei einem Wirtshaus besann er sich, lachte und trat ein. Die Wirtin bediente gerade ein paar Fuhrleute; zwischendurch gab sie dem Alten das Schnäpschen, das er bestellt hatte. Bald stand er auf und ging kichernd hinaus, ohne zu zahlen, mit Kopf und Schultern zuckend. Die Wirtin schrie »Wo ist der Kerl?« Und die Fuhrleute wollten ihm nach. Aber der Wirt, der des Freitags halber rasch zum Fischhändler mußte und für den Augenblick kein Durcheinander wollte, hielt Frau und Gäste zurück: »Läßt’s schon flötengehen.«
Der alte Mann trottete unangefochten weiter. Er durchzog das Städtchen, nicht auf der Hauptstraße, sondern über den kleinen Markt. Ziemlich sicher, straffer als vorher, mit einer ruhigeren Miene, stieg er zwischen den Gärten am Rand der Stadt den Hügel hinauf.
Zwischen den Häusern war der Weg noch gepflastert, an den steilsten Stellen von Stufen unterbrochen, auf den Hügeln wurde er ein gewöhnlicher Feldweg, der vom Main und der Landstraße weg tiefer ins Land führte. Dicht am Stadtrand zweigte sich ein ähnlicher Weg ab, der auf die Landstraße stieß; und die Hauptstraße des Städtchens
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