Das siebte Kreuz
vorbeigezogen ist, und sobald es vorbei war, war es nicht mehr wie vorher, sondern zum Weinen still und leer.
Als Hermann nach dieser Mittagspause durch den Hof kam, stieß er auf Lersch, der kurze Befehle heraufrief mit einem Gesichtsausdruck, der Hermann flüchtig mißfiel. Hermann sah nach oben. Der kleine Otto hing angeseilt zwischen den Rädern eines Waggons, den schweren Kolben ungeschickt wendend. Der Hof lag unterhalb der Straßenebene. Durch seine Schwebevorrichtung konnte der Waggon hochgestellt oder so verschoben werden, daß er über den Hof herausstand. Der Junge schwankte ganz leicht, er hielt sich steif fest. Er sah bald in den Hof, der ihm von dort oben aus tief vorkam, bald hinauf auf den Waggon, der auf ihn zu kippen schien. Ein junger Arbeiter, der die Zugvorrichtung kontrollierte, rief ihm etwas zu, aber nicht kurz angebunden und spöttisch, sondern lachend und lebhaft. Otto hatte wahrscheinlich einen Anfall von Furcht und Ungeschicklichkeit, wie das in der Lehrzeit oftmals geschieht.
Lersch selbst hatte das ausgeglichene Aussehen eines älteren Facharbeiters, wenn man ihn in der Werkstatt bei seiner Arbeit antraf. Jetzt aber paßte der Klang seiner Stimme, sein verächtliches Lächeln, der Glanz in seinen Augen schlecht zu dem einfachen Vorgang: das Anlernen eines Jungen. Hermann ging an ihm vorbei, indem er sich sagte, daß ihn, was hier geschah, nichts anging. Drei Meter weiter blieb er stehen, weil er sich sagte, daß ihn alles etwas anging-Hermann wartete an der eisernen Stiege, bis der Bub abgefertigt war. Er stand beinah stramm vor dem Lersch, sein weißes Gesicht gehoben, ohne zu blinzeln, den kindlichen Mund halb offen. Als Otto ihm nachgab und mit ihm heraufstieg, da sagte Hermann: »Das passiert einem immer am Anfang. Du mußt dich nicht so starr halten, im Gegenteil – locker machen. Überhaupt nicht dran denken, daß du schwebst. Die Vorrichtung an dem Waggon und deine eigene, das ist alles hundertmal überprüft. In den zehn Jahren, in denen ich hier bin, ist dabei noch nie ein Unfall passiert. Das mußt du dir sagen, wenn dich das überkommt. Es gibt aber keinen, den das am Anfang nicht überkommt. Mich auch!« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Junge aber zog seine Schultern unmerklich zusammen, daß Hermanns Hand herunterglitt. Er sah den alten Mann kalt an. Er dachte wohl: Das ist eine Sache zwischen Lersch und mir, du verstehst davon nichts.
Im Weitergehen hörte Hermann den jungen Arbeiter auflachen. Lersch rief einen seiner kurzen Befehle nach oben, in einem Ton, als stünde er nicht in einem Fabrik-, sondern in einem Kasernenhof. Hermann sah sich rasch noch einmal um, er sah das Gesicht des Buben, bleich vor der Furcht, zu versagen, bei einer Gelegenheit, die für Befehle oder für Ehrgeiz viel zu geringfügig war. Was kann aus ihm werden, sagte sich Hermann, der Bub hält jetzt Güte für Geschwätzigkeit und Solidarität für altertümlichen Unsinn. Ein zweiter Lersch vielleicht, noch ein schlimmerer, weil die Lehre danach war.
Hermann durchquerte zwei Höfe auf Straßenhöhe. Er stieg in den betäubenden Lärm der Werkstatt, in das ununterbrochene weiße und gelbe Geblitz der Schweißerei. Hier und dort traf ihn ein Lächeln, das in den geschwärzten Gesichtern einer Grimasse ähnlich sah, Blicke aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, ein paar Zurufe, die im Gedonner untergingen. Ich bin nicht allein, sagte sich Hermann. Solche Gedanken sind Unsinn, was ich eben über den Bub gedacht habe – barer Unsinn. Ein Bub wie alle. Ich will die Patenschaft über das Kind übernehmen, eine Art von geheimer Patenschaft. Diesen Jungen werde ich dem Lersch wegschnappen. Das wird mir gelingen. Wir werden sehen, wer stärker ist. Ja, aber dazu war Zeit nötig! Diese Zeit wird man ihm vielleicht nicht lassen. Von der langwierigen Aufgabe, die er sich plötzlich gestellt hatte – so plötzlich, daß es ihm selbst vorkam, sie sei ihm gestellt worden –, kehrten seine Gedanken zu der brennendsten Aufgabe zurück, an der vielleicht alles scheitern konnte. Gestern hatte ihn Sauer, der Architekt, gleich nach der Schicht abgepaßt an einer Stelle, die nur für äußerste Notfälle ausgemacht war. Sauer war von Zweifeln gequält, ob er seinen Besucher so glatt hätte abweisen dürfen, und das Bild, das er von ihm gab, klein, blauäugig, sommersprossig, paßte genau auf Franz Marnets
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