Das siebte Kreuz
legte sich wieder zu Bett. Er dachte jetzt: Vielleicht ist er gar nicht unter diesen Flüchtlingen. Er muß überhaupt zu schwach sein für solche Unternehmung. Doch wer auch geflohen sein mag – Hermann hat ganz recht: ein entkommener Flüchtling, das ist immer etwas, das wühlt immer auf. Das ist immer ein Zweifel an ihrer Allmacht. Eine Bresche.
Zweites Kapitel
1
Als der Küster fortgegangen und die Haupttür verschlossen und auch der letzte Schall in einem Gewölbe zersplittert war, da begriff Georg, daß er jetzt eine Gnadenfrist hatte, einen so gewaltigen Aufschub, daß er ihn fast mit Rettung verwechselte. Ein heißes Gefühl von Sicherheit erfüllte ihn zum erstenmal seit seiner Flucht, ja seit seiner Gefangenschaft. So heftig dieses Gefühl war, so kurz war es. In diesem Loch, sagte er sich, ist es aber verdammt kalt.
Die Dämmerung war so tief, daß die Farben in den Fenstern erloschen. Sie hatten inzwischen den Grad erreicht, wo die Mauern zurückweichen, die Gewölbe sich heben und die Pfeiler sich endlos aneinanderreihen und hochwachsen ins Ungewisse, daß vielleicht nichts ist, vielleicht die Unendlichkeit. Georg fühlte sich plötzlich beobachtet. Er kämpfte mit diesem Gefühl, das ihm Körper und Seele lahmte. Er streckte den Kopf unter dem Taufbecken heraus. Fünf Meter von ihm entfernt, vom nächsten Pfeiler, traf ihn der Blick eines Mannes, der dort mit Stab und Mitra an seiner Grabplatte lehnte. Die Dämmerung löste den Prunk seiner Kleider auf, die von ihm wegflössen, aber nicht seine Züge, die klar, einfach und böse waren. Seine Augen verfolgten Georg, der an ihm vorbeikroch.
Die Dämmerung drang nicht von außen ein wie an gewöhnlichen Abenden. Der Dom selbst schien sich aufzulösen und zu entsteinern. Die paar Weinranken an den Pfeilern und die Fratzengesichter und dort ein zerstochener nackter Fuß waren Einbildungen und Rauch, alles Steinerne war am Verdunsten, und nur Georg war vor Schreck versteinert. Er schloß die Augen. Er tat ein paar Atemzüge, dann war es vorbei, oder die Dämmerung war noch ein wenig dichter geworden und dadurch beruhigender. Er suchte sich ein Versteck. Er sprang von einem Pfeiler zum andern. Er duckte sich, als sei er noch immer beobachtet. An dem Pfeiler, vor dem er jetzt hockte, lehnte, gleichmütig aus seiner Grabplatte über ihn hinwegsehend, ein runder gesunder Mann, auf seinem vollen Gesicht das dreiste Lächeln der Macht. In jeder Hand eine Krone, unbemerkt von Georg, krönte er unablässig zwei Zwerge, die Gegenkönige des Interregnums. Georg sprang in einem Satz, als seien die Zwischenräume belauert, zu dem nächsten Pfeiler. Er sah an dem Mann hinauf, dessen Kleider so reich waren, daß er sich hätte hineinwickeln können. Er fuhr zusammen. Ein menschliches Angesicht, das sich über ihn beugte voller Trauer und Besorgnis. Was willst du denn noch, mein Sohn, gib auf, du bist schon am Anfang zu Ende. Dein Herz klopft, deine kranke Hand klopft. Georg entdeckte einen geeigneten Ort, eine Mauernische. Er rutschte quer durch das Seitenschiff, unter den Blicken von sechs Erzkanzlern des Heiligen Reichs, mit einer abgespreizten Hand wie ein Hund, der sich eine Pfote geklemmt hat. Er setzte sich zurecht. Er rieb das Gelenk seiner kranken Hand, das sich versteift hatte. Er rieb seine Kniegelenke, seine Knöchel und Zehen.
Er hatte schon Fieber. Die kranke Hand durfte ihm keinen Streich spielen, bis er bei Leni ankam. Bei Leni wurde verbunden, gewaschen, gegessen, getrunken, geschlafen, geheilt. Er erschrak. Da mußte er ja die Nacht, die er sich eben unendlich gewünscht hatte, so rasch wie möglich hinter sich bringen. Er versuchte wieder, sich Leni vorzustellen. Ein Zauber, der manchmal gelang und manchmal mißriet, je nach Ort und Stunde. Diesmal gelang er: ein schmales, neunzehnjähriges Mädchen auf dünnen, sehr hohen Beinen, die blauen Augen fast schwarz unter dichten Wimpern, in einem blaßbraunen Gesicht. Das war der Stoff seiner Träume. Im Licht der Erinnerung, im Lauf der Trennung war aus dem Mädchen, das ihm in der Wirklichkeit zuerst fast unschön erschienen war und ein wenig komisch, durch ihre langen Arme und Beine, die ihrem Gang etwas ungeschickt Fliegendes gaben, eine Art von Fabelgeschöpf geworden, das auch in Sagen nur dann und wann vorkommt. Nach jedem Tag weiterer Trennung war es aus jedem weiteren Traum noch zarter, noch fliegender entlassen worden. Er überschüttete sie auch jetzt, an
Weitere Kostenlose Bücher